Reich-Ranicki im Bundestag: Bericht aus der Hölle des Ghettos

In einer bewegenden Rede schildert der Literaturpapst seine Erlebnisse.

Berlin. Mit brüchiger Stimme schilderte Marcel Reich-Ranicki am Freitag im Bundestag seine Zeit im Warschauer Ghetto: Als Protokollant einer Sitzung war er 1942 mit dabei, als die Nationalsozialisten die Deportation tausender Juden ins Vernichtungslager Treblinka einleiteten. Die „Umsiedlung“ der Juden aus Warschau „hatte nur einen Zweck: den Tod“, berichtete der 91-Jährige in seiner bewegenden Rede. Der scharfzüngige Kritiker ist ein wichtiger Zeitzeuge des Holocaust.

Es war die Zeit des aufkeimenden Nationalsozialismus, die den späteren Leiter des „Literarischen Quartetts“ in jungen Jahren prägte. Der am 2. Juni 1920 im polnischen Wloclawek geborene Sohn des Fabrikanten David Reich wuchs zunächst behütet auf und besuchte die deutsche Schule. Doch nach der Pleite des Vaters schickten ihn die Eltern nach Berlin zu Verwandten. Dort geriet er in die fortschreitende Juden-Verfolgung. Wegen seiner Religion wurde er von Schulausflügen und anderem ausgeschlossen.

Reich-Ranicki widmete sich in dieser Zeit der Literatur. „Ein extremes, ein unheimliches Gefühl hatte mich befallen und überwältigt. Ich war verliebt. Ich war verliebt in sie, die Literatur“, erinnerte er sich später. 1938 machte er sein Abitur. Wochen danach ging es nur noch ums Überleben. Die Nazis verhafteten ihn und wiesen ihn nach Polen aus.

In Warschau lernte er seine spätere Frau Teofila, genannt Tosia kennen. Diese Liebe hielt bis zu Tosias Tod im Frühjahr 2011. Nach ihrer Zwangsumsiedlung ins Warschauer Ghetto heirateten sie. Die junge Ehe der beiden war im Ghetto von Anfang an ein Überlebenskampf, über den er auch im Bundestag berichtete.

Im Januar 1943 sollten beide vergast werden — auf dem Weg zum Versammlungsplatz des Ghettos versteckten sie sich. Bald darauf gelang dem Paar auch die Flucht. Ein arbeitsloser Schriftsetzer versteckte sie. Doch bei ihrem Beschützer bestand die Gefahr, dass er seine für ihn gefährlichen Gäste wieder rausschmeißen könnte.

Reich-Ranicki unterhielt seinen Gastgeber mit Nacherzählungen von Büchern. „Je besser eine Geschichte war, je spannender, desto mehr wurden wir belohnt. Mit einem Stück Brot, mit zwei Mohrrüben oder dergleichen.“ Der Plan ging auf — anders als seine Eltern und sein Bruder Alexander Herbert überlebte Reich-Ranicki den Holocaust.

Bis 1958 blieben er und seine Frau mit ihrem 1948 geborenen Sohn Andrzej Alexander in Polen. Dort arbeitete Reich-Ranicki für die Geheimpolizei, später als Lektor und Schriftsteller. Doch bei einer Studienfahrt blieb er 1958 in Frankfurt am Main, bald folgten ihm auch Frau und Sohn.

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