Essen Petra Hinz ein Jahr nach dem Fall: „Jetzt ist Schluss!“

Die gefallene SPD-Abgeordnete spricht exklusiv über Demut, Schuld, die Partei und Journalisten, die ihre Familie bedrohen.

Essen: Petra Hinz ein Jahr nach dem Fall: „Jetzt ist Schluss!“
Foto: Michael Passon

Essen. Das Haar ist ein wenig kürzer und heller. Aber noch etwas ist anders. Etwas Entscheidendes. Da ist Leben in den Augen. Damals, als wir Petra Hinz trafen, irgendwo in der Provinz nahe einer Nervenklinik, war der Blick leer — ungläubig, ängstlich, schuldig. Ein Jahr ist seither vergangen. Die Klinik hat sie im November verlassen, sich zurückgetraut nach Essen, auf die Margarethenhöhe, und angefangen, sich selbst zu suchen. Es ist ein langer Weg, sie ist noch unterwegs.

Es ist Ende Juli 2016, als die Welt der Petra Hinz zusammenfällt wie ein Kartenhaus. Diese Welt ist die SPD, wie eine Familie, die sie seit elf Jahren im Bundestag vertreten darf. Journalisten finden heraus, dass Hinz ihren Lebenslauf gefälscht hat. Sie ist keine Juristin, wie es in ihrer offiziellen Vita steht. Eine Lüge. Eine gnadenlose Hetzjagd beginnt, die Medien zwischen Flensburg und Oberammergau überschlagen sich, die Story schafft es bis in US-amerikanische Medien.

Hinz begeht den Fehler, nicht sofort reinen Tisch zu machen, verschanzt sich, blockt. Als sie Tage später mit unserer Zeitung spricht, ist es zu spät. Ihre SPD hat sie fallen lassen wie die sprichwörtliche Kartoffel, versucht, möglichst schnell möglichst viele Meter zwischen sich und der Frau zu bringen, die vor den Augen der aufgeregten Öffentlichkeit über Nacht zur Persona non grata wird. Hinz wird krank über den Druck, die Häme, den blanken Hass, der ihr teilweise entgegenschlägt, die offenen Drohungen. Sie legt ihr Mandat nieder, tritt aus der SPD aus und begibt sich in Therapie.

Petra Hinz

Heute öffnet Petra Hinz die Tür zu ihrer kleinen gemütlichen Wohnung in Essen. Ein Essen, das sie nach eigener Einschätzung wieder „erreicht“ hat. „Richtig angekommen bin ich noch nicht.“ Sie hofft auf ein Stück Normalität, darauf, irgendwann einfach nur Privatperson sein zu dürfen. Unten auf der Straße kommt wie aufs Stichwort ein Nachbar von der Arbeit und winkt hoch, Petra Hinz winkt zurück und lächelt. „Ich bin 55 Jahre alt, möchte nochmal neu durchstarten, und ich habe auch das Recht dazu.“

Lange war es ruhig. Relativ. Nun steht die Bundestagswahl bevor. Auf den SPD-Plakaten in ihrem ehemaligen Wahlkreis wirbt Gereon Wolters um Wählerstimmen, ein Professor von der Uni Bochum. Und manche Medien entdecken die gefallene Essenerin wieder für sich. Andere haben sie nie vergessen. „Ich hatte mich fast schon dran gewöhnt, dass die Leute sich in meinem Garten herumtreiben, mit Nachbarn sprechen wollen, schauen, ob bei mir das Licht brennt. Ich benutze nur noch schwarze Müllbeutel, weil es Medien tatsächlich interessiert, was ich wegschmeiße. Von einzelnen werde ich regelrecht gestalkt. Das nimmt derzeit Formen an, dass ich mich gezwungen sehe, juristische Schritte einzuleiten.“

Konkret geht es um ein Essener Lokalmagazin, dass sich „quasi schon verzweifelt um ein Exklusiv-Interview bemüht. Das geht soweit, dass man mir und meiner Familie ellenlange Pamphlete in die Briefkästen wirft, mit der Drohung, mich ein weiteres Mal bundesweit durch die Medien zu jagen. Ich soll beweisen, dass ich damals wie angekündigt die August-Diät an gemeinnützige Organisationen gespendet habe.“

Unserer Zeitung liegen die Briefe vor. Genauso wie die Überweisungsbelege. 5000 Euro für den Kinderschutzbund Essen, 300 an den Förderverein Essener Friedens-Forum. Pro Asyl hatte sie nicht bedacht, eine Abwägung zugunsten der anderen beiden Organisationen. Das entspricht laut Hinz nach Steuern dem besagten August-Salär.

„Ich habe nichts zu verbergen, aber ich lasse mich auch nicht erpressen oder nötigen.“ Vom Kinderschutzbund hat sie dieser Tage Post erhalten (das Schreiben liegt unserer Zeitung vor). Die Organisation beklagt seitens des Lokalmagazins massiven Druck, die Überweisung von Hinz nachzuweisen. Von unverhohlenen Drohungen ist die Rede. „Angeblich habe er (der Journalist des Magazins, d. Red.) — was uns betrifft, in der Tat nicht korrekte — Informationen darüber, dass diese angekündigten Zuwendungen nie getätigt wurden“, heißt es darin. Und Hinz sagt: „Solange es nur um mich geht, halte ich den Druck aus. Nun werden meine Familie und Dritte hineingezogen, jetzt ist Schluss.“

Petra Hinz hat sich nun ein Jahr lang um Petra Hinz gekümmert. „Ein Geschenk“, sagt sie. „Ich hatte 34 Jahre lang nur SPD gedacht und gewirkt.“ Heute sei sie achtsamer, schätze den Moment und genieße, „auch mal eine Stunde vor der Tür mit Nachbarn quatschen zu können“. Mit der SPD ist sie durch. Nicht nur mit Essens SPD-Chef und Ex-Justizminister Thomas Kutschaty, der nach Hinz’ Angaben auf dem Gipfel der Krise interne Absprachen gebrochen haben soll, um sich selbst zu schützen.

Es gab so viele Genossen, die nicht mit ihr, dafür über sie geredet haben mit unterschiedlichsten Medien. „Etwa Dirk Heidenblut, der öffentlich im „Spiegel“ darüber redet ‘Vielleicht habe Frau Hinz ihre Biografie in manchen Momenten ja gar nicht mehr angezweifelt’ und so ganz subtil suggeriert, dass ich den Bezug zur Realität verloren haben könnte. Oder der Essener Ratsherr Udo Karnath, der dem „Spiegel“ vorlog, er hätte Kontakt mit meiner resignierten Familie.

Es gab Funktionäre, die für mich Wohnungen außerhalb Essens gesucht haben. Ich sollte am besten gar nicht mehr zurückkommen oder wenigstens mein Äußeres verändern, damit mich auf der Straße niemand mehr mit der SPD in Verbindung bringen kann. Klingt unglaublich, ist es auch. Aber leider wahr.“

Hinz ist im Mai und Juni den Jakobsweg gewandert. 800 Kilometer am Stück. Allein, mit der heiligen Barbara in der Tasche. Ein Stück Identität. „Ich habe mir tief ins Gesicht geschaut. Meine Lebenslauf-Lüge ist unverzeihlich, aber es muss auch für mich weitergehen. Und heute weiß ich: Das darf es auch. Wenn man mich lässt.“ Und: „Ich möchte mir gern selbst verzeihen, noch gelingt das nicht so gut. Ich habe meine Eltern und Familie angelogen und dann hat sich das wie ein roter Faden weiter durch mein Leben gezogen.“

Vielleicht, glaubt sie, sei sie in ihrer Arbeit deshalb so „überkorrekt bis kleinkariert gewesen, weil ich immer diesen Rucksack mit mir rumgeschleppt habe“. Sie habe erst in der Replik realisiert, dass sie so viele Menschen enttäuscht hat, die sich auf Sie verlassen hätten. „Eines ist mir sehr wichtig: Ich habe einmal gelogen und mich damit leider viel zu lange arrangiert. Aber ich bin keine Alltagslügnerin. Das lasse ich mir nicht gefallen.“

Petra Hinz hofft und glaubt, klarer zu sehen. Zu verstehen, warum sich die Politik so weit von den Bürgern entfernt habe. „Zu viele Sprechblasen und austauschbare Versatzstücke.“ Ihr ist auch klar, dass dieser bewusste Kontakt zur Öffentlichkeit mindestens von der SPD als Nachtreten im Wahlkampf ausgelegt werden könnte. „Das ist nicht mehr mein Problem. Mir geht es um den Schutz meiner Familie und der angesprochenen Organisationen. Als Martin Schulz auf den Plan trat, haben sie sich selbst gefeiert. Und dann vergessen, sich hinter ihm zu versammeln.“

Hinter Petra Hinz haben sich die Familie versammelt, Freunde, Nachbarn. Von den ehemaligen Politik-Kollegen hat sich niemand mehr gemeldet. Heute geht sie in die Gruga, in den Zoo, zum Einkaufen zum Sport. Ein normales Leben. Fast.

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