Umfragehoch SPD: Mehr Willy wagen

Kann Mehr Willy wagen der neue Willy Brandt werden? Jedenfalls beschert zum ersten Mal seit 1972 ein einzelner Sozialdemokrat seiner Partei einen Massenzulauf an Sympathie und Neumitgliedern.

Umfragehoch: SPD: Mehr Willy wagen
Foto: dpa

Berlin/Schwerte. Nach fast zwölf Jahren Kanzlerschaft Angela Merkels und damit einer fast ebenso langen strategischen Entpolitisierung der Berliner Republik, in der Millionen vor allem von SPD-Wählern nach dem Konzept der „asymmetrischen Demobilisierung“ durch Dauerfrustration von den Wahlurnen ferngehalten, Probleme weitgehend ihrer pragmatischen Selbsterledigung und abstiegsgeängstigte Bevölkerungsgruppen der Zuflucht am rechts- und linkspopulistischen Rand überlassen wurden, kündigt die deutsche Sozialdemokratie den Konsens der Visionslosigkeit auf — und erntet einen Zulauf wie seit nahezu einem halben Jahrhundert nicht mehr.

Wo immer sich in SPD-Ortsvereinen in den letzten Jahren jemand um ein Parteiamt bewarb, gab die Bewerberin oder der Bewerber nicht selten mit Wehmut in der Stimme an, einst „wegen Willy“ in die Partei eingetreten zu sein. Jetzt rennen die Neumitglieder „wegen Martin“ der alten Tante SPD die Bude ein. Dass trotz der Parallelität (noch) kein Genosse den Vergleich zwischen dem Übervater Willy Brandt und Martin Schulz wagt, mag daran liegen, dass der Vergleich auf den ersten Blick reichlich hinkt, wie der frühere „Welt“-Chefredakteur Thomas Schmid schreibt: „Willy Brandt konnte sich auf eine Partei stützen, die Substanz und eine Zukunftsidee hatte. Martin Schulz kann das nicht.“

Schmid sieht wie auch Schulz-Kritiker aus dem Merkel-Lager bei dem Volkstribun aus Würselen eher ein „Überschwappen“ populistischer Methoden auf das Feld der herkömmlichen Parteien: „Man kann es so formulieren: Der Wille zur Macht schlägt Aufrichtigkeit und Wahrheit. Was ist schon Sein gegen Schein? Mehr noch: Der freihändige Umgang mit Fakten und Regeln schadet gar nicht. Im Gegenteil, er adelt, er zeichnet aus.“ Dazu passt, dass Ministerpräsidentin und SPD-Spitzenkandidatin Hannelore Kraft jüngst bei ihrer Kandidatenkür vorsorglich jede Kritik an Schulz schon unter den Verdacht einer gegnerischen „Schmutzkampagne“ stellte.

Vielleicht ist die Vergleichbarkeit zwischen Brandts und Schulz’ Erfolgsgeheimnis aber doch größer, als Merkels Lager es wahrhaben will und die SPD es wahrnehmen kann. In dieser Woche feiert die linke Tageszeitung „Junge Welt“ das Erscheinen eines Buches mit dem Titel „Von der Demokratie zur Agonie. Ursprung, Aufstieg und Niedergang einer guten Idee“. Autor Herbert Graf war jahrzehntelang treu ergebener Mitarbeiter von DDR-Mauer-Bauer Walter Ulbricht und verbreitet sein altes Gift nun im linkspopulistischen Gewand. Es dürfte kaum Zufall sein, dass die Wortwahl jedoch dem ehrlich besorgten Diktum von Hans Werner Richter, dem Gründer der Schriftsteller-„Gruppe 47“, von 1961 entspricht: „Die Agonie der Demokratie hat begonnen.“ Das war, wie die Historikerin Helga Grebing in einem Beitrag an den Beginn der Ära Brandt erinnerte, die Befürchtung jener von bleierner Langeweile und reaktionärem Mief vergifteten Jahre des Kalten Kriegs nach dem Mauerbau, als Richter und andere die SPD als einziges Hindernis „gegen eine offene und gefährliche Entwicklung nach rechts“ betrachteten.

Schulz und Brandt verbindet Symbolisierung des Neuanfangs


Mit ihrer Unfähigkeit, die Adenauer-Zeit zu beenden, verlor die CDU/CSU über ein Jahrzehnt lang immer mehr an Gestaltungskraft: 1961 absolute Mehrheit weg, aber nicht Adenauer; von 1963 bis 1966 den eigenen Kanzler Ludwig Erhard geschreddert; 1966 zur großen Koalition gezwungen, der sie mit dem früheren NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger das Gesicht der unbewältigten Vergangenheit gab. Das Land rückte sowohl nach links als auch nach rechts; die SPD drohte sich selbst auf einem Platz zwischen den Stühlen festzusetzen. Wie Helga Gebring es formulierte: „Da stand man nun ,gegen rechts’ und zugleich gegen die ausufernde Revolutionsromantik der 68er, die glaubten, alles, grundsätzlich alles neu erfinden zu müssen, und die Hoffnungsträger der SPD waren erst einmal in der Großen Koalition verschwunden!“

Zumindest auf dem Platz zwischen den Stühlen könnte die heutige SPD sich wiederkennen. Dass sie Brandts erste Kanzlerschaft von 1969 mit der berühmten Regierungserklärung „Mehr Demokratie wagen“ bis heute als Neu- oder Umgründung der Bundesrepublik versteht, ist in Teilen lediglich Ausdruck der alten linksliberalen Sehnsucht, in Deutschland möge sich nach französischem Vorbild der „Homme de lettres“, der schreiberisch gewandte Mensch, als Ideal des durch Bildung bürgerlich geadelten Politikers etablieren. Über Brandts berühmte Rede vom 28. Oktober 1969 hatte, wie der „Spiegel“ zu berichten wusste, ein „Autoren-Kollektiv ehemaliger Journalisten drei Tage und vier Nächte beraten: Willy Brandt („Lübecker Volksbote“), Herbert Wehner („Hamburger Echo“), Egon Bahr (Rias Berlin), Leo Bauer („Stern“) und Conrad Ahlers (Spiegel)“, dazu mischte sich Günter Grass „mit Formulierungshilfen in die Schreibarbeit ein“.

Brandts tatsächlicher Vortrag war dann in Sachen öffentlicher Wahrnehmung zunächst eine ziemliche Pleite: Er sprach am späten Donnerstagabend. Die Zuschauertribünen im Bonner Bundestag waren längst leer, die Fernseh-Kameras abgeschaltet und die meisten Journalisten nach Hause gegangen. Der Mehr-Demokratie- wagen-Satz war ohne besondere Betonung irgendwo im Text versteckt. Wie der französische Deutschland-Kenner Alfred Grosser es zutreffend zusammenfasste: „Die lange, allzu lange Regierungserklärung von 1969 wird von den Wenigsten von Anfang bis zu Ende gelesen worden sein. Es war der Redner, dessen Person eine Art erwärmenden Neuanfang symbolisierte. Auf vielen Gebieten hat es diesen Neuanfang in Wirklichkeit nicht gegeben. Aber was im Rückblick bewirkt wurde und bleibt, ist doch von wirklich historischer Dimension.“

Es ist das, was Martin Schulz mit Willy Brandt verbindet — diese Symbolisierung eines erwärmenden Neuanfangs. Peter Glotz (1939-2005), lange der Vorzeige-Intellektuelle der SPD, beschrieb Brandt als einen Charismatiker, der sich mehr für „die emotionale Vergemeinschaftung als für die möglichst geschickte und nützliche Vergesellschaftung“ der Deutschen interessiert habe: „Brandt war ein beherrschter, verbindlicher, diskursiver Mann, ein Herr, aber gleichzeitig ein verschlossener, seine Gefühle verbergender, seine Enttäuschungen verschluckender Mann. Wenn das Charisma durchbrach, ging er schlafwandlerisch auf dem Dachfirst. Niemand von uns erreichte ihn dann. Aber er ist nie vom Dach gefallen.“

Charisma kann man nicht lernen; alles andere schon. Martin Schulz hat ein untrügliches Gespür dafür, dass viele Menschen sich ihr Erleben und Empfinden nicht mit Zahlen und Statistiken ausreden lassen. Nicht ihre zugunsten von Banken- und Griechenland- Rettung verdampften Altersrücklagen, nicht das an ihren Kindern gebrochene Versprechen, dass Leistung sich lohnt und Bildung zum Aufstieg statt nur zum nächsten Praktikum führt, und auch nicht das Empfinden, dass die einen in diesem Land auch in schlechten Zeiten immer dicke Backen haben und die anderen als Angestellte und Steuerzahler nicht einmal weglaufen können. Und auch nicht, dass es keine Rolle spielt, ob Arbeitsamt oder Job-Center über der Tür steht, wenn man dort für Schicksalsschläge erniedrigt und gedemütigt wird, als sei man kein Bürger, sondern ein besiegter Feind, und wenn dort nicht Armut bekämpft wird, sondern arme Menschen. Martin Schulz mag kein Intellektueller sein wie Willy Brandt. Das wird ihm nicht schaden. Denn genützt hat es in Deutschland noch keinem Kanzler.
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SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz im Willy-Brandt-Haus in Berlin.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz im Willy-Brandt-Haus in Berlin.

Foto: Bernd von Jutrczenka
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