Ermittlungsdesaster: NSU-Ausschuss will tiefgreifende Reformen

Berlin (dpa) - Radikale Reformen und ein tiefgreifender Mentalitätswandel bei Polizei und Geheimdiensten sollen Neonaziterror wie die NSU-Mordserie künftig verhindern.

Das ist das Ergebnis des Untersuchungsausschusses zu den Versäumnissen bei den Ermittlungen gegen die Terrorzelle des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU). Der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (SPD) sprach bei der Vorlage des gut 1300 Seiten starken Berichts am Donnerstag in Berlin von einem „historisch beispiellosen Desaster“. Fraktionsübergreifend legte der Ausschuss einen Forderungskatalog in 47 Punkten vor. Anwälte der Opfer und der Zentralrat der Muslime äußerten Kritik.

Edathy beklagte rassistische und ausländerfeindliche Tendenzen in den Sicherheitsbehörden, die verhindert hätten, dass ohne Verzögerung auch ein rechtsextremistischer Hintergrund der zehn Morde geprüft worden sei. Von strukturellem Rassismus wollte er aber nicht sprechen. Edathy forderte bessere Prävention, um zu verhindern, dass junge Menschen in den Rechtsextremismus abgleiten. Die Politik müsse überlegen, wie es zu schaffen sei, „dass junge Leute nicht in ein solches menschenfeindliches ideologisches Weltbild abdriften können“.

Dem NSU werden zwischen den Jahren 2000 und 2007 zehn Morde zur Last gelegt - neun davon an türkisch- und griechischstämmigen Migranten. Polizei und Nachrichtendienste waren der Bande über Jahre nicht auf die Spur gekommen. Die Neonazis flogen erst Ende 2011 auf.

Bundestagspräsident Norbert Lammert versicherte in einem Geleitwort zu dem Bericht: „Der Schutz von Leib und Leben und die von unserer Verfassung garantierten Grundrechte haben in diesem Land Geltung für jeden, der hier lebt, mit welcher Herkunft, mit welchem Glauben und mit welcher Orientierung auch immer.“ Am 2. September beschäftigt sich der Bundestag in einer Sondersitzung mit dem Bericht. Bundespräsident Joachim Gauck sowie Angehörige der Opfer werden an der Parlamentssitzung teilnehmen.

Als Konsequenz aus den Vorgängen um den NSU fordert der Ausschuss unter anderem die Einstellung von mehr Polizisten mit ausländischen Wurzeln und die Entwicklung „interkultureller Kompetenz“. Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern sowie von Polizei und Geheimdiensten müsse verbessert werden. Der Verfassungsschutz brauche neue Offenheit „und keine "Schlapphut-Haltung" der Abschottung“. Das System der V-Leute müsse reformiert werden. Grüne und Linke forderten darüber hinaus eine weitgehende Umstrukturierung oder die komplette Auflösung des Verfassungsschutzes.

Die Anwälte der Nebenkläger im Münchner NSU-Prozess kritisierten den Abschlussbericht als unzureichend. Das entscheidende Problem, dass es in den Sicherheitsbehörden einen institutionellen Rassismus gebe, werde ausgeblendet, erklärten 17 Juristen, die Angehörige der NSU-Opfer vertreten. Bisher sei kein Mentalitätswandel erkennbar. Die Arbeit vieler Beamter sei von Vorurteilen geprägt.

Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, forderte die Einsetzung eines Antirassismusbeauftragten, der dem Parlament jährlich einen Bericht vorlegen müsse. „Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit werden immer noch in unserem Land sträflich verharmlost oder kleingeredet“, warnte er.

Außenminister Guido Westerwelle (FDP) lobte den Abschlussbericht bei einem Treffen mit seinem türkischen Amtskollegen Ahmet Davutoglu in Berlin als Beitrag für ein besseres Deutschland-Bild im Ausland und als wichtiges Signal der Vertrauensbildung. Die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer erklärte: „Die wachsende Vielfalt in unserem Land mit 15 Millionen Menschen aus Zuwandererfamilien muss sich auch bei der Polizei, beim Verfassungsschutz und in anderen Sicherheitsbehörden widerspiegeln.“

Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) betonte, es seien bereits wichtige Konsequenzen aus den Fehlern der Sicherheitsbehörden gezogen worden. Dazu zähle die Einrichtung eines Gemeinsamen Abwehrzentrums Rechtsextremismus oder die Schaffung einer Rechtsextremismusdatei. Es gebe aber noch erheblichen Handlungsbedarf. Die Gewerkschaft der Polizei wies den Vorwurf rassistisch geprägter Verdachtsstrukturen innerhalb der Polizei als ungeheuerliche Unterstellung zurück.

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