Deutliche Kritik am „Deal“ in Strafprozessen

Karlsruhe (dpa) - Die Praxis der Absprachen in Strafprozessen stößt bei Verfassungsrichtern, Richtern und der Justizministerin auf große Bedenken. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) kündigte vor dem Bundesverfassungsgericht an, sie werde „alles tun, um mögliche Missentwicklungen zu korrigieren“.

Das Karlsruher Gericht verhandelte über drei Verfassungsbeschwerden gegen Strafurteile, die nach einer Absprache zustande gekommen waren.

In Deutschland ist die „Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten“ seit 2009 gesetzlich geregelt - in der Praxis halten sich viele Richter allerdings nicht an die Bestimmungen, wie der Düsseldorfer Kriminologe Karsten Altenhain ausführte. Er hatte eine Studie im Auftrag des Gerichts erstellt: Demnach treffen fast 60 Prozent der Richter die Mehrzahl ihrer Absprachen - sogenannte Deals - ohne die vorgeschriebene Protokollierung, also informell.

Das rief kritische Fragen hevor: „Müsste das nicht eigentlich illegale Verständigung heißen?“, fragte etwa Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff. Problematisch fanden die Verfassungsrichter auch, dass die Erforschung der Wahrheit bei einer Absprache oft zu kurz kommt: Nach Altenhains Studie überprüfen 28 Prozent Richter nach einem Deal bestenfalls „manchmal“, ob das ausgehandelte Geständnis auch glaubhaft ist. BGH-Präsident Klaus Tolksdorf, der als Sachverständiger gehört wurde, sprach von einem strukturellen Problem. „Ich glaube, im Prinzip vertragen sich Konsens und Strafrecht nicht.“

Generalbundesanwalt Harald Range sagte, er mache sich „Sorgen um die Wahrheitserforschung“. Er sprach sich aber grundsätzlich für die Möglichkeit von Verständigungen vor Gericht aus. Dabei solle es aber nicht ausreichen, wenn der Angeklagte lediglich ein „formales“ Geständnis abgebe - also nur pauschal einräume, dass die Anklage zutreffe.

Für den Deutschen Anwaltverein warnte der Strafverteidiger Rainer Hamm vor der Gefahr von Fehlurteilen. 55 Prozent der Verteidiger hatten der Studie zufolge angegeben, dass ihre Mandanten schon mutmaßlich falsche Geständnisse abgegeben hätten, um die Zusage einer milden Strafe zu erlangen.

Mehrere Vorsitzende Richter von Strafkammern berichteten zum Teil über eine „exzessive Praxis“ der Absprachen vor Gericht, die sogar dazu führe, „dass man die Akten nicht mehr liest“. Der Freiburger Strafrechts-Professor Wolfgang Frisch führte aus, nach einer Absprache ersetze das Geständnis „fast durchgängig die Beweisaufnahme“.

Die Justizministerin ließ in einer Verhandlungspause erklären, es sei „erschreckend, dass Beschränkungen der Verständigung im Strafverfahren in der Praxis oft nicht angewandt werden. Das muss die Politik beunruhigen.“ Die mit der gesetzlichen Regelung angestrebte Rechtssicherheit sei nicht eingetreten.

Die Richter des Zweiten Senats suchten nach Alternativen. Sollten sie die Regelung für verfassungswidrig erklären, könnte das die Praxis an den Gerichten „weiter in die Illegalität treiben“, fürchtete Verfassungsrichter Herbert Landau. Diskutiert wurde über eine Berichtspflicht der Staatsanwaltschaft über Verständigungen und darüber, Verstöße gegen die Verständigungsregeln als absoluten Revisionsgrund zu werten. Mit einem Urteil ist erst im kommenden Jahr zu rechnen.

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