Demokratie lebt von Beteiligung

Wolfgang Thierse (SPD) über die Krise der politischen Kommunikation, die Piraten und das NPD-Verbotsverfahren.

Berlin. Wolfgang Thierse, ehemaliger DDR-Oppositioneller und Urgestein der ostdeutschen Sozialdemokraten, kandidiert nach 23 Jahren nicht wieder für den deutschen Bundestag. Als langjähriger Bundestagspräsident oder Vizepräsident war der gebürtige Breslauer eine wichtige Stimme für die demokratischen Institutionen.

Herr Thierse, sagt Ihnen der Begriff „liquid democracy“ etwas?

Wolfgang Thierse: Das ist der Versuch der Piraten, neue Beteiligungsformen in ihrer Partei zu eröffnen. Ich halte das für spannend, bin aber neugierig, wie sie dabei das Grundproblem aller Parteien lösen.

Welches?

Thierse: Demokratie lebt von Beteiligung. Aber sie lebt auch davon, dass Menschen für eine eigene Meinung einstehen und dafür werben. Demokratie verträgt sich nicht mit Anonymität.

Haben die Piraten deswegen fast alle ihre Politiker, die sich nach vorne gewagt haben, schnell wieder verschlissen?

Thierse: Die Piraten tun sich jedenfalls erkennbar schwer mit der persönlichen politischen Verantwortung einzelner.

Bei den etablierten Parteien gibt es davon manchmal zuviel und zuwenig Basisbeteiligung, so dass die Menschen sich davon abwenden.

Thierse: Natürlich, es gibt eine Vertrauenskrise des repräsentativen demokratischen Systems. Das hat zum einen mit individuellem Fehlverhalten einzelner Politiker zu tun. Aber mehr noch damit, dass viele Menschen den Eindruck haben, dass die Politik gar nicht mehr die wirkliche Macht hat, sondern der Ökonomie, den Managern und den Bankern hinterher rennt. Demokratische Politik muss ihre Gestaltungshoheit gegenüber den Märkten wieder zurückgewinnen.

Sind Volksentscheide eine Antwort auf die Politikverdrossenheit? Die CSU will sie ausdrücklich auch für die Europapolitik.

Thierse: Bisher hat die Union alle Versuche abgeblockt, Volksentscheide auf Bundesebene einzuführen. Insofern ist der Vorschlag jetzt im bayerischen Landtagswahlkampf ziemlich wohlfeil. Ich habe nichts gegen mehr Elemente direkter Demokratie. Denn sie zwingen die Politik dazu, die wirklichen Gründe ihrer Entscheidungen überzeugend zu erklären. Bei der Griechenland-Rettung zum Beispiel wurde das von der Bundesregierung versäumt.

Wie kann der Bundestag seine Debatten interessanter machen, so dass mehr Menschen Lust haben, sie sich im Fernsehen anzusehen?

Thierse: Der Bundestag ist nicht dazu da, das legitime Unterhaltungsbedürfnis von Menschen zu befriedigen. Ich befriedige mein Unterhaltungsbedürfnis dort auch nicht. Wir führen dort Debatten um manchmal dröge und komplizierte Sachprobleme, die einfach nicht alle interessieren können. Ich wünsche mir allerdings, dass es gelegentlich zu großen Themen auch große Debatten mit großen Reden gibt, und dass dann die Sendeanstalten das auch bringen, mit Einordnungen durch Journalisten. Und ich wünsche mir auch, dass die Abgeordneten so verständlich reden, dass die Bürger begreifen, worum es geht.

Seit Jahren sind Sie aktiv im Kampf gegen Rechts engagiert. Befriedigt Sie der Verbotsantrag des Bundesrates gegen die NPD?

Thierse: Das ist keine Kategorie. Ich finde die monatelang dauernde quälende Debatte um dieses Verfahren allmählich peinigend und peinlich. Die zuständigen Länderinnenminister haben Material gesammelt und glauben, genug Gründe für ein Verfahren zu haben. Die Ministerpräsidenten haben sich ihnen angeschlossen. Jetzt sollten Bundesregierung und Bundestag ohne viel öffentliches Hin und Her dieses Material prüfen und dann entscheiden.

Können es sich Bundesregierung und Bundestag denn politisch leisten, sich der Klage nicht anzuschließen?

Thierse: In der Tat kann ich das nicht empfehlen. Wichtig ist mir aber, dass die Diskussionen endlich aufhören. Die geben der NPD derzeit am meisten Auftrieb. Der Rechtsextremismus ist eine viel größere Herausforderung, als viele in unserem Lande wahrnehmen. Das haben die NSU-Morde gezeigt. Der konjunkturelle Umgang mit dem Rechtsextremismus — heute Aufregung, morgen Desinteresse — der muss endlich mal aufhören.

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