GroKo-Sondierungen Analyse: Die SPD in der „Zeit der Monster“

Berlin/Bonn. In Sachen Selbstzerfleischung lassen die Sozialdemokraten und ihnen nahestehende Kolumnisten in diesen Tagen nur wenig aus. Jakob Augstein fiel in seiner Kolumne bei „Spiegel-Online“ gar auf seinen eigenen seichten Gedanken herein, das drohende „Joch der großen Koalition“ — kein Witz — mit der Zustimmung der SPD zur Kriegsfinanzierung des Kaiserreichs 1914 zu vergleichen: „Die Sozis stehen immer noch unter einem Zwang, der der Union ganz fremd ist: sie glauben, ihre Staatstreue unter Beweis stellen zu müssen — daran hat sich seit den unseligen Zeiten der Kriegskredite nichts geändert.“

GroKo-Sondierungen: Analyse: Die SPD in der „Zeit der Monster“
Foto: Schwartz, Anna (as)

So übertrieben das sein mag, so unüberhörbar ist derzeit: Wo Martin Schulz während des Wahlkampfes stolz erklärte, dass die ehrbare Partei Otto Wels’, der sich dem Ermächtigungsgesetz der Nazis widersetzte, niemals habe ihren Namen ändern müssen, erklingt jetzt in ungelenkeren Worten weitaus häufiger die alte Klage Kurt Tucholskys über das Unglück, dass die SPD weiterhin „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ heiße: „Hieße sie seit dem August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleineren Übels oder Hier können Familien Kaffee kochen oder so etwas: vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahingegangen, wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen.“

 SPD-Parteichef Martin Schulz muss zur Zeit sehr um Unterstützung in der eigenen Partei kämpfen.

SPD-Parteichef Martin Schulz muss zur Zeit sehr um Unterstützung in der eigenen Partei kämpfen.

Foto: dpa

Ob die SPD sich als Partei für oder gegen eine große Koalition entscheidet, ist zunächst eine rein taktische Frage: Nützt es der SPD auf Dauer mehr, wenn sie in einer weiteren großen Koalition für ihre Klientel durchsetzt, was durchzusetzen ist, oder ist es klüger, vielen potenziellen und Ex-SPD-Wählern klar zu machen, dass es sozialdemokratische Wohltaten nur geben kann, wenn die SPD bei Neuwahlen mehr als 20 Prozent der Stimmen einfährt? Viel entscheidender für die Zukunft ist: Was genau wäre eigentlich ein sozialdemokratisches Politik-Konzept, das erfolgreicher sein könnte, als die Martin-Schulz-SPD es am 24. September war?

Nichts hört man bei der SPD derzeit häufiger als die linke Selbstbezichtigung, einfach nicht links genug zu sein, und dazu den Verdacht, dass die „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“-Spötter in Wahrheit recht haben. Im linken Lager gilt schon die Große Koalition von 1966 als Fehler, die von 2005 nach Gerhard Schröder sowieso, und wer bereits 2013 nicht noch einmal mit Angela Merkel (CDU) regieren wollte und sich ärgerte, dass die SPD die rechnerische rot-rot-grüne Mehrheit im Bundestag vier Jahre lang nicht nutzte, der will jetzt erst recht nicht in Muttis bleierne Arme zurück. Und schließlich wäre Merkels Scheitern bei der Regierungsbildung die beste Chance der SPD auf ein Comeback bei Neuwahlen — falls sie selbst eine erkennbare programmatische (und personelle) Alternative aufbieten könnte.

Vielleicht würde die SPD aber auch bloß dort landen, wo die niederländische Partij van de Arbeid und die französische Parti socialiste schon sind: bei 5,7 und 7,4 Prozent. Seit Jahren verlieren sozialdemokratische Parteien überall in Europa eine Wahl nach der nächsten. Schon mit den 90er Jahren endete die kurze Blüte, die die europäische Sozialdemokratie nach dem Ende des kalten Krieges erlebt hatten. In Deutschland kostete die „Agenda 2010“, die den Sozialstaat über die neoliberalen Zeiten retten sollte, am Ende die SPD ihre Macht. Man befinde sich genau in der entgegengesetzten Situation des frühen 20. Jahrhunderts, als die Linke gewusst habe, was zu tun sei, aber geduldig auf den richtigen Augenblick habe warten müssen, schrieb der linke Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Zizek vor sieben Jahren in einem „Aufruf zur Radikalität“ für Le Monde diplomatique: „Wir dagegen wissen nicht, was wir tun sollen, müssen aber jetzt handeln. (…)Wir werden in vollkommen ungeeigneten Situationen Schritte in den Abgrund riskieren müssen; wir werden Teile des Neuen neu zu erfinden haben, nur um die Maschine in Gang zu halten und um zu bewahren, was am Alten gut war — Bildung, Gesundheitswesen, grundlegende Sozialleistungen.“ Die Situation sei so, wie Antonio Gramsci (1891-1937), der Gründer der kommunistischen Partei Italiens, die Epoche charakterisiert habe, die mit dem Ersten Weltkrieg begann, befand Zizek: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster.“ Was als Beschreibung immerhin zum Erleben der europäischen Sozialdemokratie passt, die ihre einstigen Anhänger in Scharen zu Antidemokraten, rechtsgerichteten Populisten und Angstmachern überlaufen sieht. Oder zu Populisten der Mitte, wie dem bürgerlich-liberalen Mark Rutte in den Niederlanden, der (vorerst) den rechtsextremistischen Geert Wilders stoppte, oder Emmanuel Macron in Frankreich, der zwar Marine Le Pen aushebelte, aber selbst alles andere als ein Sozialdemokrat ist.

René Cuperus, lange Direktor eines Think Tanks der niederländischen Arbeitspartei (PvdA), warnte in einem Papier der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung vor vier Jahren, es sei ein Fehler, den Populismus als ein Defizit der weniger ausgebildeten Klassen darzustellen. Der elitäre Diskurs unterstelle, dass diese Menschen über zu wenig Bildung und kulturelles Kapital verfügten, um mit der sich rapide wandelnden Welt zu Recht zu kommen und sich ihr anzupassen. „Das ist ein Fall von selbstzufriedenem meritokratischen Darwinismus. Den weniger Gebildeten werden ihr Mangel an Bildung und ihr mangelnder Erfolg vorgehalten. Dabei gerät aus dem Blick, dass die weniger gut ausgebildeten Menschen in ihrem Alltag sehr viel direkter mit den Komplexitäten der europäischen Integration und Migration konfrontiert sind als die Akademiker. Denn die können sich die sogenannte weiße Flucht in weniger multikulturelle Stadtteile, Schulen und Sportklubs ja ohne Probleme leisten“, so Cuperus.

Die besser ausgebildete Hälfte der niederländischen Gesellschaft habe halb-bewusst ein falsches Selbstbild entwickelt. Die Leute gäben vor kosmopolitisch, universalistisch, pro-Einwanderung, pro-islamisch, pro-EU und gegen „Law & Order“ zu sein. Doch die Einstellung beruhe zumeist nur auf dem Bemühen um soziale Status-Abgrenzung gegenüber den ordinären, vulgären weniger Gebildeten: „Denn wie kosmopolitisch, pro-europäisch, pro-islamisch und so weiter ist diese akademische Elite bei genauerer Betrachtung wirklich? An dieser Behauptung ist einiges abzuziehen. Man könnte sogar sagen, oh Ironie, dass es heute die weniger Gebildeten sind, die als Avantgarde funktionieren und auf die Schattenseiten der Globalisierung hinweisen. Zumindest setzen sie die ungerechte und ungleiche Lastenverteilung der Globalisierung auf die politische Agenda“, erklärte Cuperus.

Das wollte in der SPD bis vor wenigen Wochen niemand hören, es hat aber auch der PvdA selbst nichts genützt: „Wir haben in den letzten Jahrzehnten mehrmals Wahlen verloren, und jedes Mal nach großen Niederlagen wurde eine Untersuchungskommission eingesetzt — ich selbst war Autor solcher Berichte: was lief falsch? Was müssen wir verändern? Aber dieser Schock war so tief und existenziell, dass wir bis heute keine Untersuchung der tieferen Ursachen dieser Niederlage haben. Ich meine, das spricht Bände“, so René Cuperus über den existenzbedrohenden Absturz seiner Partei bei den März-Wahlen kürzlich im Gepräch mit dem Deutschlandfunk.

Kopfschmerzen müsste der SPD daher nicht bereiten, ob 200 000 Flüchtlinge pro Jahr ein gutes Sondierungsergebnis und eine Koalitionsbasis sind — sondern dass auch diese Zahl an Zuwanderern unverändert Menschen Angst macht. Was man letztlich brauche, so Cuperus bereits 2014, sei „ein neuer Kompromiss, ein neuer Sozialvertrag und ein neuer kultureller Vertrag zwischen den besser und den weniger gut gebildeten Menschen auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Auf der Linken, auf der Rechten, und unter gut integrierten Einwanderern.“ Dafür hat die SPD in Wahrheit kein Programm. Seit dem „Hamburger Programm“ 2007 konzentrierte sie sich in dicklichen und deshalb für die Meinungsbildung weitgehend wirkungslosen Papieren auf die Zielvorstellung eines vorsorgenden Sozialstaates, in dem Sozialpolitik zu einer umfassenden Gesellschaftspolitik entwickelt wird: Sicherheit, Teilhabe und Emanzipation mit der Aussicht auf Verwirklichung für alle Bürger, getrieben von einem sozialwissenschaftlich ambitionierten „Capability Approach“ (deutsch: „Ansatz der Verwirklichungschancen“).

In der Realität erlebte die für die SPD wichtige gesellschaftliche Mitte der Bevölkerung dagegen keinen „Capability Approach“, sondern von unten den Druck des restriktiven Hartz-IV-Regimes als Bedrohung und von oben das Ausbleiben von Teilhabe am Wirtschaftswachstum als gebrochenes Versprechen; gebrochen (auch) von Sozialdemokraten, die die meiste Zeit mitregierten. Sigmar Gabriel lag völlig richtig, als er im Dezember in seinem viel kritisierten „Spiegel“-Gastbeitrag „Sehnsucht nach Heimat“ in Frageform feststellte, die Sehnsucht nach einer „Leitkultur“ sei angesichts der vielfältigeren Zusammensetzung der Gesellschaft kein konservatives Propagandainstrument. Vielmehr verberge sich dahinter „auch in unserer Wählerschaft der Wunsch nach Orientierung in einer scheinbar immer unverbindlicheren Welt der Postmoderne“. Im Kern müsse die SPD „egal ob in oder außerhalb einer Bundesregierung“ eine ganz andere Aufstellung vornehmen, so Gabriel.

Was folgt daraus? Die Ablehnung von Koalitionsverhandlungen mit der Union wird die SPD nicht retten, der Einstieg jedoch auch nicht ihren Untergang besiegeln. Sie kann eine „Zeit der Monster“, in der die alte Welt im Sterben liegt und die neue noch nicht geboren ist, jedoch weder auf der Regierungsbank noch in der Opposition einfach aussitzen. Aber vielleicht hat sie Glück: Slavoj Zizek hat das Monster-Zitat Gramscis reichlich frei gebraucht. Richtig lautet die Übersetzung: „Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.“ Krankheiten kann man bekanntlich heilen.

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