Begleitung für zum Tode Verurteilte Hinrichtung: Gabi Uhl stand schon drei Brieffreunden bei — bis in den Tod

Die Lehrerin ist engagiert gegen die Todesstrafe. Seit 20 Jahren fliegt sie immer wieder nach Texas, um zum Tode Verurteilten zu helfen.

Taunusstein. Gabi Uhl will keine Mordtaten verharmlosen. Sie sagt aber auch: „Die Welt wird nicht besser, wenn der Staat dasselbe tut, was er bei Verbrechern verurteilt.“

Frau Uhl, Sie pflegen seit vielen Jahren Briefkontakte zu in den USA zum Tode verurteilten Häftlingen. Und Sie haben bei drei Hinrichtungen im Zeugenraum gesessen und die Exekution beobachtet. Wie kamen Sie dazu, sich in dieser Weise gegen die Todesstrafe zu engagieren?

Gabi Uhl: Über eine Freundin. Das war vor fast 20 Jahren. Sie hatte Briefkontakt zu Clifford Boggess, einem Häftling in der Todeszelle in Huntsville, Texas. Sie hatte schon mit 15 Jahren angefangen, ihm zu schreiben, dreieinhalb Jahre ging das. Sie wollte ihn nach dem Abitur besuchen. Als das letzte Berufungsverfahren negativ verlaufen war, rückte der Hinrichtungstermin näher, die Zeit drängte. Sie war Schülerin an der Schule, an der ich unterrichtete. Und da bot ich ihr an, sie zu begleiten.

Zum Hinrichtungstermin?

Uhl: Nein, der stand da noch nicht fest. Wir haben ihn besucht. Und danach hatte ich ihm auch geschrieben, wir hatten also Briefkontakt, es entwickelte sich relativ schnell eine enge Freundschaft. Ich habe ihn dann drei Monate später, das war im April 1998, noch einmal allein besucht.

Wie muss man sich einen solchen Besuch vorstellen, wie man das aus Filmen kennt?

Uhl: Ja, man ist getrennt durch eine Glasscheibe. Als jemand, der mehr als 300 Meilen entfernt wohnt, bekommt man das Recht auf „special visits“, das heißt, man darf zwei Tage hintereinander vier Stunden Kontakt haben.

Haben Sie mit ihm über seine Tat gesprochen?

Uhl: Nicht direkt, aber er hatte einen Brief an die Enkelin eines seiner Opfer geschrieben, darin hatte er über die Tat gesprochen. Den hatte er auch in Kopie an seine Freunde geschickt, auf diesem Weg kannte ich die Hintergründe.

Und dann kam der Hinrichtungstermin.

Uhl: Ja, da kannte ich ihn ein knappes halbes Jahr. Er wollte, dass der Termin auf seinen 33. Geburtstag fiel. Er wollte die Welt an dem Datum verlassen, an dem er sie betreten hat.

Und da sollten Sie dabei sein?

Uhl: Es war sein Wunsch, dass wir, ich und meine Freundin, dabei sind. Er wollte Menschen, die ihm wichtig sind, bis zum Schluss bei sich haben.

Wie muss man sich das vorstellen, dieses Dabeisein?

Uhl: Die Hinrichtungen werden meist auf 18 Uhr angesetzt, kurz nach 17 Uhr muss man sich am Verwaltungsgebäude einfinden. Es gibt einen Sicherheitscheck. Und dann werden die Angehörigen des Opfers und die Angehörigen des Häftlings in den Zeugenraum geführt.

Zusammen?

Uhl: Nein, man vermeidet, dass sie zusammentreffen. Sie sind getrennt durch eine blickdichte Trennwand. In jeden der Räume passen drei, maximal vier Personen, die sich direkt an die Scheibe mit Blick auf den Hinrichtungsraum stellen können. Fünf Angehörige dürfen jeweils dabei sein, aber dann müssen ein oder zwei in der zweiten Reihe stehen. Es gibt keine Stühle. Dahinter ist noch Platz für Pressevertreter und Vollzugsbeamte.

Und dann haben Sie nur noch einen letzten Blickkontakt?

Uhl: Ja, aber über der Hinrichtungsliege, auf der der Häftling fixiert ist, hängt ein Mikrofon, die letzten Worte werden in die Zeugenräume übertragen.

Können Sie sich erinnern, was er gesagt hat?

Uhl: Cliff hat die Angehörigen seiner Opfer um Vergebung gebeten, und, an uns gerichtet, gesagt: „Meine Freunde, ich liebe euch, und ich bin glücklich, dass ihr ein Teil meines Lebens gewesen seid.“ Und er hat ein Gebet gesprochen.

Wie fühlten Sie sich da?

Uhl: Ich war erstaunt, mit welcher Größe Cliff in die Hinrichtung gegangen ist. Er war im Gefängnis sehr gläubig geworden, das gab ihm ein ungeheures Maß an Kraft. Es war für ihn ein Schritt in ein besseres Leben. Sogar in dem engen Hinrichtungsraum auf der Liege, auf die er mit vielen Gurten festgeschnallt war, hat er über das ganze Gesicht gestrahlt, als er uns sah. Ich dagegen hatte das Gefühl, dass meine Gesichtszüge wie eingefroren waren. Er hat diese Stärke ganz bis zum Schluss auf der Hinrichtungsliege durchgehalten. Das war unglaublich beeindruckend. Er hat damit auch versucht, uns es so leicht zu machen wie es eben ging. Wenn er selbst große Schwierigkeiten gehabt hätte, wäre das auch für uns viele schwieriger geworden.

Und dann? Der Moment der Hinrichtung, als das Gift in die Arme gespritzt wurde?

Uhl: Das mag seltsam klingen, so schrecklich es war, es hatte es was Friedliches an sich. Es gab eine Art schnarchendes Geräusch, als die Luft aus den Lungen entwich, und dann war da nichts mehr. Ein paar endlos scheinende Minuten starrten wir den Körper an, bis der Arzt den Tod feststellte.

Wie war es in den anderen beiden Fällen, in denen sie später Zeugin einer Hinrichtung waren?

Uhl: Im Fall von Willie Trottie war es ähnlich. Aber bei Kevin Kincy ganz anders, das hatte was von einem Horrorfilm. Er war zwar auch friedlich und gelassen vor dem Termin, aber was dann zu sehen war, war schrecklich — auch wenn er davon vermutlich nichts gespürt hat. In dem Moment, als die Luft aus den Lungen entwich und seine Lippen anfingen zu flattern, erinnerte mich das an ein schnaubendes Pferd. Das sah nicht mehr menschlich aus. Das wirkte, als habe ein Alien von ihm Besitz ergriffen. Während Cliff und Willie die Augen geschlossen hatten, blieb bei ihm ein Auge halb und das andere ganz auf.

Und mit diesem Bild vor Augen gingen Sie dann wieder raus ins Leben? Führt das nicht zu Alpträumen?

Uhl: Wenn dies das letzte Bild gewesen wäre, dann hätte ich so nicht nach Hause fahren wollen. Ich war froh, dass wir danach noch im Bestattungsinstitut waren. Als Kevin da aufgebahrt war, war er wieder er selbst.

Warum tun Sie sich das an — den Alptraum, einen Menschen, zu dem man eine enge Beziehung aufgebaut hat, in Briefen, in persönlichen Kontakten, sterben zu sehen?

Uhl: Die Vorstellung, irgendwo zu sitzen, in einem Hotelzimmer in Texas oder zu Hause und auf die Uhr zu gucken, bis es passiert, oder am Computer ständig die Seite zu aktualisieren, um die Nachricht zu bekommen — das wäre für mich noch schlimmer, als dabei zu sein. Ein ehemaliger Gefängnispfarrer, der in Texas fast 100 Hinrichtungen begleitet hat, hat einmal gesagt: Es sollte niemand einsam und allein sterben müssen. Das sehe ich auch so.

Haben diese sehr persönlichen Kontakte und Erlebnisse Sie bestärkt in Ihrer Einstellung gegen die Todesstrafe?

Uhl: Ja, ich finde es unglaublich überheblich, dass Menschen im besten Wissen, was sie tun, einen anderen Menschen vom Leben in den Tod befördern. Ich heiße keine Taten gut, ich will nichts von dem verharmlosen, was die wegen Mordes Verurteilten getan haben. Aber die Welt wird nicht besser, wenn der Staat dasselbe tut, was er bei Verbrechern verurteilt. Und es ist auch gut, dass es Menschen gibt, die sich um Opfer und Opferangehörige kümmern. Mich hat das Schicksal eben auf die andere Seite gestellt. Es ist wichtig, dass sich Menschen hier auf beiden Seiten engagieren.

Sind Sie wütend?

Uhl: Was soll ich tun? Als ich gesehen habe, mit welcher Größe Cliff in die Hinrichtung gegangen ist, da habe ich gedacht: Wer von denen, die da jetzt an der Tötung beteiligt sind, wird mit so viel innerer Größe eines Tages seinen Weg gehen? Menschen spielen sich zu Herren über Leben und Tod auf, das kam mir barbarisch vor. Das habe ich vom Kopf bis zu den Zehen gespürt. Das ist nicht etwas, das in das 21. Jahrhundert passt. Wie gesagt, ich heiße nicht gut, was die Verurteilten getan haben, aber ein Täter besteht nicht nur aus dieser Tat. Cliff zum Beispiel hat sich in zwölf Jahren im Todestrakt sehr verändert. Er hat sich lieber von Wärtern zusammenschlagen lassen, als noch mal Gewalt anzuwenden. Das weiß ich von Mithäftlingen. Es gibt die Möglichkeit, dass sich jemand verändert. Und die Todesstrafe als Abschreckung funktioniert ja auch nicht.

Aber ist die Todesstrafe nicht wenigstens für die Angehörigen der Opfer so etwas wie eine Befriedigung?

Uhl: Ich glaube nicht, dass sie dadurch ihren Frieden finden. Der Fall von Willie Trottie, der im September 2014 hingerichtet wurde, ist dafür ein Beispiel: Er war verurteilt wegen Mordes an seiner Lebensgefährtin und seinem Schwager. 1993 geschah die Tat. Der Sohn von Willie war damals noch ein Kleinkind, als er seine Mutter verlor. Mit der Hinrichtung 20 Jahre später hat er auch noch den Vater, dem er vergeben hatte, verloren. Das mitzuerleben, hat mich innerlich zerrissen. Kurz bevor wir los mussten zum Verwaltungsgebäude, habe ich gesehen, wie er in einem Flur verschwunden ist, zusammengekrümmt vor Verzweiflung. Warum muss man ihm das antun?

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