Grossbritannien: Der Exodus der Armen

Weil die Regierung sozialschwachen Familien das Wohngeld kürzt, müssen hunderttausende Londoner ihre teure Heimatstadt verlassen.

London. Paukenschlag in der britischen Hauptstadt: Die Verwaltung reserviert zurzeit Pensionszimmer und Billigunterkünfte im Umland der Metropole, um den bevorstehenden Exodus von Einkommensschwachen zu lenken.

Mindestens 200.000 Menschen werden London im kommenden Jahr verlassen müssen, nachdem die Regierung beschlossen hat, am Wohngeld zu sparen.

Dass die radikale Rodung der Staatsausgaben, verkündet vergangenen Mittwoch, nicht ohne Nebenwirkungen bleiben würde, war den Briten klar. In London, eine der teuersten Städte Europas, trifft es offenbar als Erstes jene, die schon jetzt finanziell kaum über die Runden kommen.

Arbeitsunfähige und Sozialhilfeempfänger müssen ab April 2011 damit rechnen, ihre Unterkunft in der Hauptstadt aufzugeben und in Vorstädte umgesiedelt zu werden. Hintergrund ist die Deckelung des Wohngeldes durch die konservativ-liberale Koalition. In Zukunft liegt die Höchstgrenze für Mietzuschüsse bei einer Zwei-Zimmer-Wohnung bei umgerechnet 280 Euro pro Woche. Familien erhalten für eine Vier-Zimmer-Wohnung maximal 380 Euro wöchentlich.

In einem zweiten Schritt wird das Wohngeld im Herbst 2011 sogar weiter auf 30 Prozent der ortsüblichen Durchschnittsmiete abgesenkt.

In London, wo sich die Durchschnittsmiete dieses Jahr bei monatlich 1940 Euro einpendelt, lässt sich zu diesen Konditionen kaum Wohnraum finden.

Das wissen auch die Ämter, denen es obliegt, die Betroffenen im kommenden Jahr anderweitig unterzubringen. Hunderte Privatunterkünfte und Pensionszimmer hat die Stadtverwaltung nun in bis zu 70 Kilometer weit entfernten Kommunen wie Reading, Hastings und Luton reserviert.

"Was wir hier sehen, ist ein Paradebeispiel für soziale und ökonomische Säuberung", kritisiert Labour-Politiker Jon Cruddas die Regierungspläne. Die konservativ-liberale Koalition hingegen argumentiert mit "mehr Fairness": Auch Durchschnittsverdiener müssten weit außerhalb wohnen und in die Stadt pendeln, da sie sich selbst mit zwei Gehältern keine Stadtwohnung leisten könnten.

Die Situation von Einkommensschwachen ist in London doppelt schlecht, da zu den Spitzenmieten auf dem privaten Wohnungsmarkt ein Mangel an verfügbaren Sozialwohnungen kommt. Der Strukturwandel, allseits als positive Entwicklung begrüßt, vernichtet obendrein den letzten bezahlbaren Wohnraum an der Themse: Eine Wohnung in den Docklands oder im Londoner Osten können sich Arbeiter, die hier Jahrzehnte lang ihre Wurzeln hatten, nach den millionenschweren Stadtteilsanierungen kaum noch leisten.

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