Kritik an ARD Fall Freiburg: Was gehört in die „Tagesschau“?

Die ARD steht in der Kritik, weil sie im Fall Freiburg nicht berichtet hat und ist nun in Erklärungsnot.

Kritik an ARD: Fall Freiburg: Was gehört in die „Tagesschau“?
Foto: dpa

Hamburg/Freiburg. Es gilt unter Historikern als ausgemacht, dass das Assyrische Reich — es existierte 1200 Jahre, vom 18. Jahrhundert v. Chr. bis 609 v. Chr. — seine erstaunliche Langlebigkeit unter anderem den „Königsstraßen“ verdankte. Das waren befestigte und bewachte Wege, die ausschließlich dem Transport von wichtigen Nachrichten für den Hof dienten, bevor Nachrichten in späteren Gesellschaften das Fundament der Meinungsbildung und damit die Basis von Politik wurden.

Was sich von der assyrischen Königsstraße in vorchristlicher Zeit bis zur gestrigen 20-Uhr-Ausgabe der „Tagesschau“ nicht geändert hat, ist der Streit darum, was eine wichtige Nachricht ist, und was entsprechend auf die Straße darf oder in der wichtigsten und teuersten täglichen TV-Sendung (Kosten: 1800 Euro pro Minute) gesendet werden darf. Oder muss. Oder nicht.

Seit die „Tagesschau“ am Samstagabend in der 20-Uhr-Ausgabe nicht meldete, dass die Polizei im Fall der vergewaltigten und getöteten Freiburger Studentin Maria L. einen dringend tatverdächtigen Flüchtling (17) gefasst hatte, wird die in Hamburg ansässige Redaktion von „ARD aktuell“ mit Kritik überschüttet.

Nachdem auch Politik und einige Medien, allen voran die Online-Redaktion von „Bild“ und „Stern“, in die Kritik einstimmten, gab die Redaktion auf Facebook eine Stellungnahme ab: Bei aller Tragik habe der Kriminalfall nur „eine regionale Bedeutung“, die Tagesschau berichte jedoch „überregional, als Nachrichtensendung für ganz Deutschland“.

Da es sich bei dem Tatverdächtigen um einen 17-Jährigen handele, sei zudem „bei jeglicher Berichterstattung der besondere Schutz von Jugendlichen und Heranwachsenden zu beachten - unabhängig von deren Herkunft.“ Im Internet habe man ja berichtet, auch auf Facebook und Twitter, hieß es weiter. Doch mit dieser Erklärung ging die Debatte erst richtig los, zumal längst internationale Medien über den „regionalen“ Fall berichteten. Schließlich fühlte sich Kai Gniffke, Erster Chefredakteur von ARD-aktuell, zu einer weiteren Erklärung bemüßigt: „Die Tagesschau berichtet über gesellschaftlich, national und international relevante Ereignisse. Da zählt ein Mordfall nicht dazu.“

Gniffke räumt ein, dass die Redaktion aber auch ganz anders hätte anders entscheiden können: „Man hätte durchaus mit dem Gesprächswert dieses Mordfalls argumentieren können, denn tatsächlich hatten die beiden jüngsten Vergewaltigungs- bzw. Mordfälle in Freiburg (von denen man nicht weiß, ob sie zusammenhängen) zu einer größeren Aufmerksamkeit der Medien geführt, auch über die Region Freiburg hinaus. Da wir für die Tagesschau den Gesprächswert eines Themas aber etwas geringer gegenüber dem Kriterium der Relevanz gewichten, haben wir uns gegen den Mordfall in der Sendung entschieden.“ Gniffkes Versuch, am Montag mit Zuschauern bei Facebook live zu diskutieren, endete ebenfalls in gegenseitigem Unverständnis.

Der Freiburger Fall ist der x-te in diesem Jahr, bei dem der Tagesschau-Chef nicht erklären kann, nach welchen Kriterien es eine Nachricht in die 20-Uhr-Ausgabe der Sendung schafft. Die Ursache ist ein grundsätzliches Problem: Die wichtigste deutsche Nachrichten-Sendung, die auf mehreren Kanälen abendlich von rund zehn Millionen Zuschauern gesehen wird, hat solche Kriterien überhaupt nicht.

Zur Frage, was eine Nachricht Tagesschau-würdig macht, heißt es bei ARD aktuell lapidar: „Die Kriterien der Nachrichtenauswahl lassen sich mit den Begriffen Relevanz, Neuigkeitswert und vermutliches Zuschauerinteresse umschreiben. Feste Regeln, die sich griffig formulieren ließen, kann es dabei natürlich nicht geben.“ Diese festen Regeln, griffig formuliert, gibt es natürlich bei den meisten anderen Medien sehr wohl.

Für die deutschen Tageszeitungen ergeben sie sich aus den Pressegesetzen der Länder, der Selbstverpflichtung auf den „Pressecodex“ des deutschen Presserats, aus selbst erarbeiteten Redaktions-Statuten und publizistischen Grundsätzen der Verlage. Gleiches gilt weltweit für die meisten TV-Anstalten. Die redaktionellen Richtlinien der britischen BBC sind ein für jedermann zugängliches Handbuch von 215 Seiten, auf das sich Zuschauer jederzeit bei Beschwerden über das Programm berufen können.

Bei der ARD, immerhin von allen Bundesbürgern zwangsfinanziert, gibt es Vergleichbares nicht. Dort heißt es für die Tagesschau lediglich: „Ausbildung, Sachkenntnis und ein breites Hintergrundwissen helfen den Redakteurinnen und Redakteuren aber bei Auswahl und Gewichtung der Themen. In oft jahrzehntelanger Erfahrung haben sie so ein sicheres Gespür für den ,Nachrichtenwert’ einer Meldung entwickelt.“ In seiner Facebook-Rechtfertigung erklärte Kai Gniffke zwar: „Wir haben verdammt hohe ethische Standards.“ Nur welche das sind, kann der Zuschauer leider nirgendwo in Erfahrung bringen.

Die letzte auffindbare konkrete Auskunft eines Tagesschau-Redakteurs zur Nachrichten-Auswahl findet sich in einem Aufsatz von 1974. Dort ist unter den Auswahl-Fragen noch zu lesen: „Was dient der demokratisch notwendigen Selbstdarstellung der staatlichen Organe und der Gesellschaftlichen Gruppen?“ Der Verdacht, den die Tagesschau ohne Regelwerk nicht ausräumen kann, ist, dass sie bis heute ganz gern einfach mal weglässt, was „den staatlichen Organen und gesellschaftlichen Gruppen“ nicht passt.

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