Die Wellen des Wohlstands

Fresswelle, Reisewelle, Sportwelle: Nichts verrät mehr über die Deutschen als ihre Geschmäcker und Moden. Eine Reise durch die Welt des Wirtschaftswunders.

Düsseldorf. 50er Jahre: Schöne neue Welt? Die Alltagskultur der Nachkriegsepoche lässt sich nicht ohne das Untergangstrauma der 40er Jahre verstehen. So düster das Gestern war, desto heiler musste die neue Wirklichkeit erscheinen.

Dazu gehörte die Rekonstruktion der alten Rollen. Während die Frauen in den Kriegsjahren die Arbeit der eingezogenen Männer taten und dann aus den Trümmern die Ziegel für den Wiederaufbau bargen, zogen sie sich in den 50er Jahren zurück ins traute Heim.

Die Hausfrau waltete im Werte-Dreieck der drei "K’s" Küche - Kirche - Kinder, draußen schuftete der Mann fürs Bruttosozialprodukt.

Doch hinter adretten Vorgärten, blitzblanken Fenstern und sauberen Gardinen herrschte das Schweigen. Historiker sprechen von der Fassadenfamilie der Nachkriegszeit: Die geballte Emsigkeit ließ keinen Platz für Konflikte; der Horror des Nationalsozialismus galt als Tabu, weil nach all dem Chaos die Sehnsucht nach der heilen Welt so übermächtig war, weil viele Kriegsheimkehrer nicht reden wollten über das Entsetzen, das noch immer in ihren Köpfen wütete.

Die alte Zeit ging durch die Seele, die neue Zeit durch die Mägen. Nachdem 1950 die Lebensmittelkarten verschwunden waren, entdeckten die Bundesbürger ihre Leidenschaft für Fettiges. Die Storchenbeine der elenden 40erJahre schwanden, Bäuche wuchsen, und wer Speck auf den Rippen trug, der trug ihn mit Stolz: Man war wieder wer.

Die Speckrolle war Statussymbol wie das Auto, das die Träume der besser verdienenden Deutschen mobil machte. Mit Vollgas raus aus der Tristesse und rein ins Land der Sehnsucht: Zehntausende krochen mit dem Käfer über die Alpenpässe und machten sich auf die Suche nach Dolce Vita, den Capri-Fischern und der untergehenden Sonne am Strand von Ischia.

Nein, nichts sollte erinnern an die Zeit des Elends - in der fernen Welt nicht und in den eigenen vier Wänden schon gar nicht. Kein Wunder, dass der Nierentisch bald zum Wohnzimmer gehörte wie Ludwig Erhard zum Wirtschaftswunder: Die freie Form des Designs war eine radikale Abkehr von der starren Symmetrie der Nazis.

Überall in der Architektur setzte sich die geschwungene Linie des Nierentisches durch. Erst in den 60er Jahren schien die Schmach des Dritten Reichs überwunden - Architektur und Design knüpften an die Vorkriegsmoderne an.

Doch erst Ende der 60er Jahre begann das Aufräumen mit der Vergangenheit. Rebellische Söhne und Töchter zerstörten die krampfhafte Familienharmonie mit bohrenden Fragen nach der Nazi-Zeit und erklärten ihr Recht auf freie Liebe und Rock’n’Roll.

Während die Pille Sexualität und Fortpflanzung entkoppelte, entdeckte die Werbung die konsumfördernde Macht der Erotik. Und der Deutsche entdeckte im Spiegel, dass sein real existierender Körper eine schwabbelige Hülle war, die dem hormonellen Diktat der neuen Zeit nicht standhielt.

Auch die Gesundheitspolitiker in Bonn debattierten über den kollektiven Zustand der Verfettung, denn Schlaganfälle und Herzinfarkte hatten die Generation Fresswelle dezimiert.

Am 16.März 1970 ging’s los: Der Deutsche Sportbund startete die Trimm-dich-Bewegung, bald war das Maskottchen Trimmy omnipräsent, während in den Wäldern Trimm-Dich-Pfade mit Reck-Stangen, Ringen und Balance-Balken entstanden.

Aber so richtig ließen sich die Deutschen nicht zur staatlich verordneten Fitness-Kur bewegen, und schon Ende der 70er Jahre wurden die Pfade von den finanziell zunehmend klammen Kommunen dem Verfall preisgegeben.

Was nicht hieß, dass die Bundesbürger Bewegungsmuffel blieben: Jane Fondas Bauch-Beine-Po-Aerobic ließ seit den frühen 80er Jahren Millionen Frauen zu Pop-Musik schwitzen, während Männer in Bodybuilding-Studios strömten, getrieben von der Sehnsucht nach dem Waschbrettbauch.

Sport war aber immer auch eine Frage des sozialen Standes. Weil in den 80ern der Eliten-Sport Tennis zur Massenbewegung degenerierte, wendete sich die obere Mittelschicht angewidert ab und widmete sich dem Golf, der aber ebenfalls zum Ärger der Hautevolee bald schon ganze SPD-Ortsvereine mobilisierte.

Zum Volkssport avancierten auch die Mobilbaukästen von Ikea. Möbel kaufte man seit den späten 70ern nicht mehr fürs Leben, sondern für Daseinsabschnitte. Wer als ökonomischer Flexist regelmäßig seinem Job nachzog, zerlegte einfach seine Schränke und baute sie im neuen Heim wieder zusammen.

Doch die totale Ikeasierung der Wohnlandschaften ist den Deutschen erspart geblieben. Denn allem Pragmatismus zum Trotz spiegeln sich in den Lebensstilen der Gegenwart die Tiefen der Geschichte: Die orangefarbenen Tapeten der 70er, die Cocktailsessel der 50er, Bauhaus und Biedermeier: Alles geht, wenn es nur cool genug inszeniert ist.

Auch Nierentische und Tütenlampen sind wieder gern gesehen in deutschen Wohnzimmern, wo sie ihren melancholischen Hauch des verflossenen Wirtschaftswunders verbreiten.

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