Die Rebellion in neuem Licht

War die 68er-Bewegung in Westdeutschland das Resultat eines Auftragsmordes der DDR-Staatssicherheit?

Berlin. Hat die Stasi Benno Ohnesorg erschossen? Muss die Geschichte der westdeutschen Studentenbewegung der 60er Jahre neu geschrieben werden?

Der tödliche Schuss aus der Dienstwaffe des West-Berliner Polizisten Karl-Heinz Kurras auf den 26-jährigen Studenten bei den Demonstrationen am 2. Juni 1967 in Berlin gilt als eine dramatische historische Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik. Nach den jetzt bekanntgewordenen Aktenfunden in der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (Birthler-Behörde) erscheint dieser historische Einschnitt in einem neuen Licht. Auch wenn Kurras bisher jede Stasi-Mitarbeit bestreitet: Der ehemaliger Polizist soll für die Staatssicherheit gearbeitet und über eine SED-Mitgliedschaft verfügt haben.

Selbst wenn alle bisher befragten Experten nicht davon ausgehen, dass die Stasi für den Tod Ohnesorgs unmittelbar verantwortlich zu machen ist, so bliebe doch die Verstrickung der SED in dramatische Ereignisse der West-Berliner Nachkriegsgeschichte, die 1967 immerhin den Rücktritt eines Regierungschefs, seines Innensenators und eines Polizeipräsidenten zur Folge hatten. Der damals betroffene Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz (SPD) als Nachfolger Willy Brandts sprach später von einem "Tag des Zornes Gottes über meinem Haupt".

Das Bild der jungen Frau, die den Kopf des am Boden liegenden sterbenden Studenten in den Händen hält, ging um die Welt und ist heute eine fotografische Ikone deutscher Nachkriegsgeschichte. Der Polizeibeamte in Zivil sah sich von Demonstranten an der Deutschen Oper umringt und bedroht, wird er später vor Gericht aussagen, das ihn freispricht. Seine zwei Schüsse leiteten eine neue Zeitrechnung ein - vor und nach dem 2. Juni, sie läuteten die Studentenrevolte der "68er" ein und riefen auch die terroristische "Rote Armee Fraktion" (RAF) mit Baader und Meinhof hervor.

Die DDR unternahm damals alles, um den verhängnisvollen Todesschuss vom 2. Juni 1967 propagandistisch als "Akt westdeutscher Polizeiwillkür" auszuschlachten. Die Wagenkolonne mit Ohnesorgs Leichnam konnte auf dem Weg nach Hannover ohne die üblichen Kontrollen auf der Autobahn-Transitstrecke durch die DDR passieren. Auf den Brücken entlang der Strecke standen tausende Angehörige der "Freien Deutschen Jugend" (FDJ) in ihren Blauhemden, um dem Toten die Ehre zu erweisen.

Für den Politologen Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung hätte die Stasi, wenn sich die neuesten Erkenntnisse bestätigen, in einem weiteren Fall "die westdeutsche Nachkriegsgeschichte mitgeschrieben, das ist schon bizarr". Er erinnert in diesem Zusammenhang vor allem an den DDR-Spion im Kanzleramt, Günter Guillaume.

Auch ist es wohl mehr als eine Ironie der Geschichte, wenn ein Schuss, der als Fanal der radikalisierten Jugendproteste in der Bundesrepublik gegen Notstandsgesetze, Vietnamkrieg, "Springer-Presse" und Hochschulgesetze, aus der Pistole eines SED-Mitglieds abgegeben worden sein sollte.

Eine der entscheidenden Fragen der damaligen Außerparlamentarischen Opposition (Apo) war auch die nach der Anwendung von Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzungen. Nach den Schüssen auf Ohnesorg und erst recht auf den Studentenführer Rudi Dutschke im April 1968, die in der Bundesrepublik Unruhen in einem bis dahin ungekannten Ausmaß auslösten, stellten immer mehr bisher "friedfertige" Demonstranten die Frage, wer denn zuerst geschossen hat.

Allein schon die Bezeichnung "Bewegung 2. Juni" für die terroristische Gruppe sollte daran erinnern, dass die West-Berliner Polizei am 2. Juni zuerst geschossen hat. Jetzt könnte man zugespitzt auch die Frage aufwerfen, ob auch die Stasi beteiligt war.

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