Wahrheitssuche Die Ohnmacht der Bilder

Medien und Öffentlichkeit diskutieren leidenschaftlich, wie mit grausamen Bildern toter Flüchtlinge umzugehen ist. Ein Bild, heißt es, sagt mehr als 1000 Worte. Aber sagt es auch die Wahrheit?

 Kim Phuc mit dem Foto, das sie als kleines Mädchen nach einem versehentlichen südvietnamesischen Napalm-Luftangriff zeigt. Das Foto trug nicht zum Ende des Vietnamkrieges bei.

Kim Phuc mit dem Foto, das sie als kleines Mädchen nach einem versehentlichen südvietnamesischen Napalm-Luftangriff zeigt. Das Foto trug nicht zum Ende des Vietnamkrieges bei.

Foto: Leonardo Muñoz

Düsseldorf. Am 27. April 1999 präsentierte Rudolf Scharping auf einer Pressekonferenz seine Beweise: Fotos, die zeigen sollten, dass serbische Spezialeinheiten Massaker an Kosovo-Albanern verübten. Auch im Bundestag griff der damalige Bundesverteidigungsminister zur Waffe des Bilder-Zeigens (diesmal von fliehenden Frauen und Kindern), um eine deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg der Nato zu rechtfertigen. „Schauen Sie diese Bilder an“, rief Scharping den Abgeordneten zu, „schauen sie hin!“ Das Problem daran war: Bessere Beweise als diese Fotos hatte Scharping nicht — und inzwischen gilt als einigermaßen gesichert, dass die Bilder manipuliert und ein Teil der angeblichen serbischen Gräueltaten frei erfunden waren.

Ein Bild, heißt es, sagt mehr als 1000 Worte. Das mag zutreffen. Aber es sagt in vielen Fällen nicht die Wahrheit. So beschwerte sich in dieser Woche eine Sprecherin der israelischen Botschaft über ein Foto im „Stern“, das einen schreienden und weinenden palästinensischen Jungen im Würgegriff eines Soldaten der Israelischen Armee zeigte. Der Text dazu erläuterte zutreffend, dass der Junge zuvor nahe einer jüdischen Siedlung im Westjordanland Steine auf Soldaten geworfen „haben soll“ und der Soldat kurz darauf von etlichen Familienmitgliedern des Jungen angegriffen wurde.

Die Überschrift der Beschwerde von Botschaftssprecherin Adi Farjon lautete: „Welcome to Pallywood.“ Als „Pallywood“ werden von Palästinensern manipulierte Fotos und vor allem TV-Berichte bezeichnet, die wahlweise angebliche israelische Übergriffe oder angebliche palästinensische Opfer zeigen sollen. Wie professionell — es gibt Regisseure, Statisten, Requisiten wie Krankenwagen und sogar gefälschte Trauerzüge — die Palästinenser diese Fälschungen herstellen, zeigte schon vor zehn Jahren die bis heute bei Youtube zu sehende Dokumentation „Pallywood: According to Palestinian Sources“.

Zu den Hauptdarstellern und Pop-Stars von Pallywood gehört seit Jahren das Ehepaar Bassem und Nariman Tamimi aus dem Dorf Nabi Saleh. Vater Bassem Tamimi leitet systematisch Kinder und Jugendliche an, israelische Soldaten mit Steinen zu bewerfen, wofür er auch schon im Gefängnis saß. Das Bild aus dem Stern zeigt seinen 11-jährigen Sohn Mohammed. Spätere Bilder aus dieser Fotoserie zeigen auch Mutter Nariman und Tochter Ahed, wie sie den Soldaten mit aller Kraft in die Hand beißt.

Die Bilder-Produktion für „Pallywood“ in Nabi Saleh findet in der Regel freitags statt. Die Steine-Schmeißer provozieren israelische Soldaten und hoffen darauf, dass deren Reaktion gute Bilder ergibt, die zur Propaganda gegen Israel verwendet werden können. Dass immer genug Fotografen zur Stelle sind, ist kein Zufall. Bassem und Nariman Tamimi laden internationale Journalisten gern ein, sie bewirten und beherbergen die Fotografen — und sorgen für Foto-Motive, die scheinbar für sich sprechen und vor allem Emotionen auslösen.

Es sind diese Emotionen, in denen unabhängig von der Echtheit die eigentliche Manipulations-Macht der Fotografie liegt. „Solange unser Geist mit so starken Emotionen erfüllt ist, verlieren wir die Fähigkeit, kritisch über die Situation nachzudenken, die dieses tragische Bild darstellt“, kommentierte die frühere Fotografie-Kuratorin der Washingtoner National Portrait Gallery, Mary Panzer, die Diskussion um das Foto eines ertrunkenen dreijährigen syrischen Jungen. Das Bild könne Betrachter so sehr in Anspruch nehmen, dass ihre Aufmerksamkeit für das eigentlich Geschehen bereits erschöpft sei. Wenn das Bild in Erinnerung bleibe, aber die faktischen Ereignisse in Vergessenheit gerieten — wer habe dann am Ende eigentlich gewonnen?

Gelegentlich ein Mythos. Als vor einer Woche beinahe alle Zeitungen — auch Westdeutsche Zeitung, Solinger Tageblatt und Remscheider Generalanzeiger — öffentlich erklärten, warum sie auf den Abdruck des Fotos der Leiche eines dreijährigen syrischen Jungen verzichteten oder nicht verzichten wollten, führten viele Befürworter eines Abdrucks das Foto der damals neunjährigen napalmverbrannten Kim Phuc als Argument an: Dieses Foto des AP-Fotografen Nick Ut habe geholfen, den Vietnamkrieg zu beenden, erklärten sie feierlich. Das entspricht vermutlich weitgehend dem kollektiven Gedächtnis der westlichen Welt.

Nur ist es leider nicht wahr: Das Bild wurde am 8. Juni 1972 auf der Route 1 bei Trang Bang nach einem versehentlichen südvietnamesischen Napalm-Luftangriff auf eigene Truppen, die 25. Armee-Division, aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die USA längt mit heimlichen Friedensgesprächen in Paris begonnen, Präsident Nixon war bereits im Februar 1972 nach China gereist, bald darauf besuchte er Moskau. Die Moral der US-Truppen in Vietnam war am Ende: Angeblich 44 Prozent der Soldaten nahmen Heroin, 20 Prozent sollen 1971 dauerhaft drogenabhängig gewesen sein. Das Foto von Kim Phuc und ihren Brüder Phan Thanh Tam, Phan Thanh Phouc sowie ihrer Cousins Ho Van Bon und Ho Thi Ting trug zum Ende des Krieges nichts bei.

Froben Homburger, der Foto-Chef der Deutschen Presse-Agentur, schrieb in dieser Woche, es sei naheliegend, der Emotionalität eines so dramatischen Geschehens wie des Ertrinkens des syrischen Kindes auch journalistisch mit Empathie zu begegnen: „Naheliegend ist auch der Wunsch, die eigene Berichterstattung möge etwas bewirken, die verzweifelte Lage vieler Flüchtlinge verbessern, die Debatte um politische Lösungen vorantreiben, das Herz der EU-Bürger öffnen, rassistische Ressentiments zurückdrängen.“ Aber Homburger fragte sich auch: „Wie vertragen sich Emotionalität und Empathie mit dem Selbstverständnis einer Nachrichtenagentur?“

In Wahrheit nicht besonders gut. Die „Bild“-Zeitung sah sich wohl nach dem Abdruck des Fotos der Kinderleiche am Strand so sehr unter Rechtfertigungsdruck, dass sie einen Tag ganz ohne Fotos erschien. Offenbar steigt jedoch die Zahl der Leserinnen und Leser, die von Tageszeitungen einen anderen Journalismus erwarten als das ungefilterte Durchreichen einer Bilderflut, die alle überfordert.

Wenn Bilder auf unser Gehirn einwirken, dann folge diese Wirkung nicht nach den Regeln der Logik, so Mary Panzer im Gespräch mit dem amerikanischen Poynter-Institut für Journalismus : „Sie treffen uns tiefer und wirken auch tiefer. Gefühle sind nicht sachlich, und natürlich kann man nicht leugnen, dass es eine Art Freude auslöst, etwas Starkes und Wahres nach all dem Kitzel und Müll zu spüren, der uns jede Stunde des Tages vor die Augen gespült die unser Gesichtsfeld jede Stunde des Tages überquert fühlen."

Es mag Ironie des Schicksals sein, dass es in der kollektiven Erinnerung eine Foto-Serie war, die den Foto-Beweisführer Scharping seinen Job als Bundesverteidigungsminister kostete: Im August 2001 zeigte die „Bunte“ ihn mit seiner Lebensgefährtin Gräfin Pilati-Borggreve im Pool auf Mallorca, während die Bundeswehr sich auf den Mazedonien-Einsatz vorbereitete.

Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping während der Bundestagssondersitzung zum Kosovo-Konflikt im April 1999 mit Luftaufnahmen der Nato, die die systematische Zerstörung von Dörfern im Kosovo durch serbische Einheiten belegen sollten. Heute gilt als einigermaßen gesichert, dass die Bilder manipuliert waren.

Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping während der Bundestagssondersitzung zum Kosovo-Konflikt im April 1999 mit Luftaufnahmen der Nato, die die systematische Zerstörung von Dörfern im Kosovo durch serbische Einheiten belegen sollten. Heute gilt als einigermaßen gesichert, dass die Bilder manipuliert waren.

Foto: Michael_Jung

Die Bundeswehr, von Rudolf Scharping mit manipulierten Bildern in den Balkan-Krieg gewunken, ist seit dem 12. Juni 1999 im Kosovo präsent. Ihr Einsatz dort mit aktuell 700 Soldaten dauert inzwischen mehr als doppelt so lange wie der Zweite Weltkrieg. Seit September 2014 sind teilweise bis zu 20.000 Menschen monatlich aus dem von der Bundeswehr beschützten Kosovo in Richtung Deutschland geflohen.

Eine Foto-Serie kostete den Foto-Beweisführer Scharping seinen Job als Bundesverteidigungsminister: Im August 2001 zeigte die „Bunte“ ihn mit seiner Lebensgefährtin Gräfin Pilati-Borggreve im Pool auf Mallorca, während die Bundeswehr sich auf den Mazedonien-Einsatz vorbereitete.

Eine Foto-Serie kostete den Foto-Beweisführer Scharping seinen Job als Bundesverteidigungsminister: Im August 2001 zeigte die „Bunte“ ihn mit seiner Lebensgefährtin Gräfin Pilati-Borggreve im Pool auf Mallorca, während die Bundeswehr sich auf den Mazedonien-Einsatz vorbereitete.

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