Den Kirchen drohen Arbeitskämpfe

Richter heben Streikverbot für 1,3 Millionen Arbeitnehmer auf. Künftig dürfen Gewerkschaften mitreden.

Erfurt. Es ist ein Urteil, das nur Sieger kennt: Nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zum Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen zogen sowohl die Arbeitgeber als auch die Gewerkschaften zufrieden vor die Kameras. „Wir haben gewonnen“, verkündet Verdi-Chef Frank Bsirske. Diakonie-Präsident Johannes Stockmeier erklärt, den Richterspruch nicht anfechten und auf den Gang vor das Bundesverfassungsgericht verzichten zu wollen. Fest steht: Das Urteil der Erfurter Richter könnte die Arbeitsbedingungen für rund 1,3 Millionen Arbeitnehmer in den beiden großen Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden Diakonie und Caritas grundlegend verändern.

Die obersten Arbeitsrichter stellten am Dienstag klar, dass die kirchlichen Arbeitgeber ihren Mitarbeitern künftig nicht mehr generell verbieten können, für bessere Löhne zu streiken. Zugleich bestätigten die Richter den kirchlichen Sonderstatus im Arbeitsrecht, knüpften aber den sogenannten Dritten Weg an Bedingungen.

Bei diesem Modell — das in den meisten kirchlichen Einrichtungen praktiziert wird — handeln Arbeitgeber und Arbeitnehmer in paritätisch besetzten Kommissionen die Arbeitsbedingungen unter sich aus. Künftig müssen jedoch auch die Gewerkschaften mit am Verhandlungstisch sitzen. Tun sie das nicht, dürfen die Beschäftigten ihre Forderungen auch mit Streiks durchsetzen, entschied jetzt der Erste Senat und setzte damit ein klares Zeichen für ein Mitspracherecht der Gewerkschaften.

„Der Kirche wird nach diesem Urteil nichts anderes übrig bleiben, als auf die Gewerkschaften zuzugehen, um zu einer Übereinkunft zu kommen“, meint der Tübinger Sozialwissenschaftler Hermann Lührs, der selbst seit 2001 in der arbeitsrechtlichen Kommission der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sitzt. Unter den vom Gericht gesetzten Voraussetzungen könnten die Gewerkschaften derzeit überall auf dem Kirchensektor zu Arbeitskampfmaßnahmen aufrufen.

Schätzungen zufolge sind nur sechs bis acht Prozent der Kirchenmitarbeiter gewerkschaftlich organisiert. Die Gewerkschaften versuchen bereits seit längerem, dort Tritt zu fassen, sind doch die Kirchen und ihre Verbände der zweitgrößte Arbeitgeber nach dem Staat. Auf dem Sozialsektor werden sogar 60 Prozent aller Arbeitsplätze von den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden gestellt. Verdi strebt einen Tarifvertrag für die gesamte Branche an, um damit unlauterem Wettbewerb durch Lohndumping einen Riegel vorzuschieben.

Bis in die 90er Jahre orientierten sich die Kirchen noch weitgehend an den Tarifverträgen im öffentlichen Dienst. Doch mit dem zunehmenden Konkurrenz- und Kostendruck auf dem sozialen Sektor driftete auch das Lohngefüge zwischen kirchlichen, öffentlichen und privaten Anbietern zunehmend auseinander.

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