Weiter Straßenschlachten in der Türkei

Istanbul (dpa) - Angesichts der schweren Gewalt bei den Protesten in der Türkei hat der Wortführer der parlamentarischen Opposition das Eingreifen von Staatspräsident Abdullah Gül gefordert.

Der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kilicdaroglu, sagte nach einem Treffen mit dem Staatschef am Montag in Ankara, er habe Gül auf seine verfassungsmäßigen Amtsvollmachten angesprochen. Bei den heftigen Demonstrationen gegen die islamisch-konservative Regierung steigt die Zahl der Opfer immer schneller. Inzwischen gebe es einen Toten und mehr als 2300 Verletzte, zitierten türkische Medien den Ärzteverband TTB.

Gül könne jederzeit das Parlament einberufen oder eine Kabinettssitzung unter seinem Vorsitz veranlassen, sagte Kilidaroglu laut Medienberichten. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan habe mit seinen Äußerungen die Lage in der Türkei eskalieren lassen. Gül gilt als sehr konservativ, aber auch als ein auf Ausgleich bedachter Politiker. Weil Erdogan nach dem Präsidentenamt strebt, ist die politische Zukunft des im Volk beliebten Staatschefs derzeit unklar. Erdogan war Stunden zuvor zu einem Besuch in Marokko abgereist.

Nach einer neuen Nacht der Gewalt verschärfte Erdogan seine Drohungen gegen die demonstrierenden Regierungsgegner. Der türkische Geheimdienst sei inländischen und ausländischen Gruppen auf der Spur, mit denen noch abgerechnet werde, sagte Erdogan.

In mehreren türkischen Städten lieferten sich regierungsfeindliche Demonstranten erneut Straßenkämpfe mit der Polizei. Ein junger Protestierer sei im Istanbuler Stadtteil Ümraniye getötet worden, als ein Autofahrer in eine Gruppe von Demonstranten steuerte, wurde der Ärzteverband TTB zitiert. Allein in Istanbul habe es bisher 1480 Verletzte gegeben, von denen mehrere mit dem Tod rängen. Seit Tagen kursieren zudem Berichte über mehrere getötete Demonstranten, die bisher offiziell nicht bestätigt wurden.

Die Proteste hatten sich an der gewaltsamen Räumung eines Protestlagers entzündet, mit dem die Zerstörung des Gezi-Parks am zentralen Taksim-Platz in Istanbul verhindert werden sollte. Inzwischen richten sie sich vor allem gegen einen als immer autoritärer empfundenen Kurs Erdogans.

Schwere Zusammenstöße gab es am Montag erneut in Ankara rund um den zentralen Kizilay-Platz. Bei den Protesten gegen die islamisch-konservative Regierung kam es in der Hauptstadt nach Angaben einer CHP-Politikerin zu Massenfestnahmen. Sie habe bei der Polizei erfahren, dass 1500 Menschen in Gewahrsam seien, sagte Aylin Nazliaka der „Hürriyet Daily News“. „Als wir dort waren, kamen neun weitere Busse an.“ Die Festgenommenen seien gefesselt, Kontakt zu Rechtsanwälten sei nicht erlaubt. Sie würden fotografiert und gedrängt, Geständnisse zu unterschreiben.

In Istanbul konzentrierten sich die Zusammenstöße in der Nacht auf das Stadtviertel Besiktas im europäischen Teil der Metropole. Die Polizei setzte wieder Wasserwerfer und Tränengas ein. Ein Demonstrant habe versucht, Polizeisperren mit einem gekaperten Bagger zu durchbrechen, berichteten Aktivisten. In dem Stadtteil befindet sich das Istanbuler Büro von Erdogan, das die Polizei abgeriegelt hat. In einer nahe gelegenen Moschee richteten Ärzte eine Krankenstation ein, um Verletzte zu behandeln.

In der Stadt Izmir attackierten Protestierer ein Büro der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP mit Brandsätzen. Das Gebäude habe Feuer gefangen, die Feuerwehr den Brand gelöscht.

Bundeskanzlerin Angela Merkel verfolge das harte Vorgehen der türkischen Polizei mit Sorge, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin: „Das Gebot der Stunde ist Deeskalation und Dialog.“ Das Recht der Bürger auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit sei ein Grundrecht in einer Demokratie. Auch US-Außenminister John Kerry äußerte sich besorgt über das gewaltsame Vorgehen der türkischen Polizei.

Erdogan rief vor der Abreise zu seinem Nordafrika-Besuch zur Ruhe auf und erklärte, die Protestwelle gegen ihn und seine Regierung sei von Extremisten organisiert. Vergleiche mit den Volksaufständen des Arabischen Frühlings wies er zurück. „Wir haben schon einen Frühling in der Türkei. Einige versuchen aber, diesen in einen Winter zu verwandeln. Sie werden keinen Erfolg haben.“ Seine Partei habe bei drei Parlamentswahlen wachsende Zustimmung erfahren und das Volk hinter sich.

Dagegen erklärte Staatspräsident Gül: „Demokratie bedeutet nicht allein, Wahlen zu haben.“ Unterschiedliche Meinungen müssten geäußert werden, aber mit gegenseitigem Respekt. „Wir leben in einer offenen Gesellschaft.“ Am Wochenende hatte Gül bereits interveniert, um den wegen Brutalität international kritisierten Polizeieinsatz auf dem Taksim-Platz zu beenden.

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