Angst vor Destabilisierung Mehr als 1000 Streiks in China

China will sich mit einem neuen Gesetz gegen den politischen Einfluss des Westens abschotten und zugleich von der EU noch in diesem Jahr als Marktwirtschaft anerkannt werden. Im Inneren gärt es.

Angst vor Destabilisierung: Mehr als 1000 Streiks in China
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Peking/Berlin. Rund 1000 ausländische Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs), dazu gehören deutsche politische Stiftungen ebenso wie internationale Lobby-Verbände, werden ab Januar 2017 ihre Arbeit in der Volksrepublik China massiv einschränken oder verändern müssen. Nach einjährigen Diskussionen und Verhandlung hat China gestern ein entsprechendes Gesetz verabschiedet, das den gesellschaftlichen und politischen Einfluss des Westens auf die chinesische Bevölkerung unterbinden soll.

Angst vor Destabilisierung: Mehr als 1000 Streiks in China
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China signalisiere mit diesem Gesetz „ein wachsendes und zugleich ambivalentes Selbstbewusstsein“, das schon länger in der Außen- und Außenwirtschaftspolitik zu beobachten sei, so Kristin Shi-Kupfer, vom Mercator Institute for China Studies (Merics) in Berlin. „Ich beobachte eine Art ,selektive Schließung’ nach außen wie nach innen. Bekämpft werden alle Werte und politischen Ordnungsvorstellungen, die eine politische Liberalisierung vorantreiben könnten“, so die Leiterin des Merics-Forschungsbereichs Politik, Gesellschaft und Medien.

Die Angst der chinesischen Führung vor einer gesellschaftlicher Destabilisierung ist nicht aus der Luft gegriffen: Allein in diesem Jahr registrierte die chinesische NGO „China Labour Bulletin“ seit Januar mehr als 1000 Streiks. Im gesamten vergangenen Jahr waren es rund 2500. Derzeit streiken nach Merics-Informationen vor allem Angestellte in Privatunternehmen aus dem Baugewerbe und der Fertigung.

Dort hat bereits aufgrund rückläufiger Exporte eine erste Welle von Entlassungen stattgefunden, doch die Situation habe sich verändert: „Früher protestierten unzufriedene Arbeiter vor allem für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Geld. Heute sind viele schlichtweg verzweifelt, weil sie monatelang gar keinen Lohn erhalten haben und nicht wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen“, so Merics-Mitarbeiter Simon Lang.

Dabei hat die eigentliche große Entlassungswelle noch gar nicht begonnen: Wie die Regierung vor dem jüngsten Volkskongress selbst mitteilte, plant sie die Entlassung von 1,8 Millionen Arbeitern allein in der Stahl- und Kohleindustrie. Damit verfolgt sie mehrere Ziele: Zum einen kann China es sich bei einer langsamer wachsenden Wirtschaft längst nicht mehr leisten, Wirtschaftszweige zu subventionieren, die trotz Dumpinglöhnen und Dumpingpreisen ihre Überkapazitäten nicht in den Griff bekommen. Zum anderen muss China vor allem der EU klare Signale senden, dass sie dieses Problem angeht. Einer der Zankäpfel zwischen China und (nicht nur) Europa ist die Stahlproduktion.

Erst am 11. April demonstrierten beim „Aktionstag Stahl“ rund 45 000 deutsche Stahl-Beschäftigte für fairen Wettbewerb und „Nein“ zur Dumping-Konkurrenz. Zumindest in NRW, wo knapp 48 000 Arbeitsplätze direkt am Stahl hängen (rund 85 000 sind es in ganz Deutschland) stellten sich SPD- und CDU-Politiker demonstrativ hinter die Beschäftigten, auf Bundesebene entdeckte SPD-Chef Sigmar Gabriel in seiner Eigenschaft als Bundeswirtschaftsminister das Thema für sich. NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft erklärte zu den Billigimporten, man werde gemeinsam mit dem Bund, den Unternehmen und den Beschäftigten „mit aller Kraft für einen fairen Wettbewerb“ kämpfen.

Während NRW pro Jahr lediglich 16 Millionen Tonnen Stahl herstellt, sind es in China 800 Millionen Tonnen, von denen ein großer Teil zu subventionierten Dumpingpreisen in Europa landet. China hat aber nicht nur aus Kostengründen ein massives Eigeninteresse, diese Überproduktionen zu senken: Es will nämlich noch in diesem Dezember von der EU als Marktwirtschaft anerkannt werden.

Was nach harmlosem politischen Schulterklopfen klingt, ist in Wahrheit ein formaler wirtschaftspolitischer Schritt mit sehr weitreichenden Folgen. Das Ziel der Anerkennung als Marktwirtschaft war vereinbart worden, als China vor 16 Jahren der Welthandelsorganisation (WTO) beitrat. Bis zum 16. Dezember will die EU nun darüber entscheiden. Stimmt sie zu, wäre es nicht mehr so leicht, Dumping-Verfahren nach den WTO-Regeln gegen China anzustrengen.

Dass es in Brüssel trotz des widersprüchlichen chinesischen Verhaltens vergleichsweise wenig Widerstand gegen den Beschluss gibt, liegt daran, dass die EU seit vier Jahren mit China über ein Investitionsabkommen verhandelt. Und Europa kann die chinesischen Investitionen gut brauchen. Nicht zufällig veröffentlichte das „Centre for European Policy Studies“, ein Brüsseler EU-Think-Tank, jüngst eine Studie, dass dieses Investitionsabkommen offen als Vorab eines Freihandelsabkommens mit China beschreibt. Die Dimensionen würden alles, was derzeit rund um TTIP diskutiert wird, deutlich in den Schatten stellen — wenn es denn gegen die vorhersehbaren Proteste der Öffentlichkeit in den europäischen Ländern durchsetzbar wäre.

Das ist die Gemengelage, in der die chinesische Führung sich zu widerstreitenden Interessen im Innern verhalten muss. Angesichts der zunehmenden Streiks hält man es bei Merics für denkbar, dass Chinas Führung aus Angst vor einer gesellschaftlichen Destabilisierung die Proteste dadurch zu mildern versucht, dass sie sich durch eine Herauszögerung der Reformen etwas Ruhe auf dem Arbeitsmarkt erkauft. Laut Merics-Mitarbeiter Simon Lang liegt die Gefahr für Chinas Führung nicht in politischen Unruhen: „Die Gefahr liegt eher darin, dass die chinesische Führung ihr Versprechen eines bescheidenen Wohlstands für alle nicht mehr erfüllen kann.“ Hinzu komme eine wachsende soziale Kluft, die für Unmut sorge. Das schade dem Ansehen der Partei.

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