Das vielsagende Schweigen in Istanbul

Immer mehr Demonstranten folgen dem Beispiel eines Tänzers und protestieren stumm gegen die Regierung und die Polizeigewalt.

Istanbul. Die junge Frau auf dem Taksim-Platz in Istanbul steht mit dem Gesicht zur schweigenden Menge. An ihrem Äußeren dürften konservative Türken einiges auszusetzen haben. Sie trägt ein Kleid mit Ausschnitt, das deutlich über den Knien endet. Über den Turnschuhen prangt am linken Knöchel ein buntes Tattoo.

Ihren Mitdemonstranten hält sie ein Schild mit der Aufschrift „Boyun Egme“ entgegen — „Beugt Euch nicht“. Allein am Dienstagabend sind dieser Aufforderung trotz der jüngsten Polizeigewalt mehrere hundert Türken gefolgt, vielleicht tausend.

Sie alle haben sich von der in der Türkei neuen Protestform „Duran Adam“ („Stehender Mann“) inspirieren lassen, die erst 24 Stunden zuvor der türkische Choreograph und Tänzer Erdem Gündüz geprägt hatte.

Auf dem Taksim-Platz im Herzen der Millionenmetropole Istanbul, der sonst alles andere als still ist, verbreiten die schweigenden Demonstranten eine fast surreale Stimmung — die auch auf Unbeteiligte ergreifend wirkt. Touristen und Passanten bleiben stehen und fotografieren die Demonstranten.

Stumm können die Demonstranten ihre Kritik an Regierung und Polizei vielleicht noch besser zum Ausdruck bringen, als wenn sie Parolen skandierten. Die Polizei hält sich zurück, auch wenn die gefürchteten Wasserwerfer bereitstehen. Die Sicherheitskräfte beobachten die Demonstranten nur. Ein junger Mann hält sein Smartphone vor sich, auf dessen Bildschirm er die rote Flagge mit dem weißen Halbmond und Stern geladen hat.

Eine schweigende Frau hat sich einen Zettel an die Kleidung geheftet, auf dem steht: „Das vereinte Volk kann niemals besiegt werden.“ Allerdings: Vereint sind die Türken eben nicht, wie die Massenkundgebungen von Anhängern von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am vergangenen Wochenende gezeigt haben.

Die Proteste haben die Türkei zu einem zutiefst gespaltenen Land gemacht. Zumindest auf dem Taksim-Platz kann das aber leicht in Vergessenheit geraten — dort herrscht ein Gefühl der Zusammengehörigkeit.

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