Belgien bald länger ohne Regierung als der Irak

Seit 240 Tagen sucht das Land eine neue Führung. Bald könnte es zu Neuwahlen kommen.

Brüssel. Manche Zeitungen in Belgien erscheinen derzeit auf den Politik-Seiten mit einer Art Unfähigkeitspegel. Aktueller Stand am heutigen Dienstag: „240“.

So lange ist es her, dass im Königreich gewählt wurde; Seit 240 Tagen warten die Belgier auf eine neue Regierung. Der Europa-Rekord (bisher Holland) in Nicht-Regierungsbildung ist bereits gebrochen, der Weltrekord (Irak) ist im März fällig. Gute Gründe, warum der Pegel nicht weiter steigen sollte, gibt es zuhauf. Die Aussichten, dass er demnächst gestoppt wird, sind nur gering.

Der Mann, der sich daran versucht, heißt Didier Reynders, ist in der abgewählten, aber geschäftsführenden Regierung des Christdemokraten Yves Leterme Finanzminister und noch eine Woche Chef der MR, der Partei der wallonischen Liberalen.

Die MR war an den bisherigen Koalitionsschmiedearbeiten nicht beteiligt, und deswegen ist Reynders so etwas wie die letzte Hoffnung von König Albert II., der den Prozess zu steuern hat. Vielleicht, dass der selbstbewusste Liberale hinbekommt, woran die anderen alle gescheitert sind? Reynders ist neuer königlicher „Informateur“, ein politischer Kundschafter, der den Geheim-pfad zur Bildung einer ordentlichen Regierung ausbaldowern soll. Bis nächste Woche Mittwoch hat er Zeit, Bewegung in die verfahrende Situation zu bringen.

Sieben Parteien haben sich im Prinzip verabredet, in dieser Legislaturperiode das Land zu führen: vier aus dem flämischen Norden, wo man Niederländisch spricht, drei aus dem wallonischen Süden, der Französisch redet.

Christdemokraten, Sozialisten und Grüne beider Landesteile, dazu die flämischen Liberalen — theoretisch gibt das eine kraftvolle Führung, die dank einer Zweidrittel-Mehrheit im Parlament die Verfassung ändern kann und dem Land eine Grundordnung verpassen könnte, die noch mehr Macht von der Zentrale in die Regionen verschiebt. Das nämlich ist das Hauptanliegen der Flamen: Der wohlhabende Norden fühlt sich in der staatlichen Gemeinschaft mit dem zurückgefallenen Süden um die Früchte seiner höheren Leistungsfähigkeit gebracht. Die Wallonen pochen hingegen auf Solidarität.

Unterdessen wächst der Druck der Wirtschaft und des Volks. Wegen der politischen Ungewissheit hat die Rating-Agentur Standard and Poor’s die Kreditwürdigkeit des Landes heruntergestuft. Ende Januar verlangten in Brüssel 30 000 Demonstranten, die Parteien sollten gefälligst eine Regierung bilden.

Wahrscheinlicher sind indes Neuwahlen, aus schierer Verzweiflung. Doch ob die zu einer neuen Regierung führen, kann niemand voraussagen.

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