Herfried und Marina Münklers Buch „Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft.“ Anleitung zum „Wir schaffen das“

Ein Jahr nach der Entscheidung der Bundeskanzlerin, die Grenzen nicht zu schließen, hat der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler mit seiner Frau Marina einen politischen Leitfaden zum „Wie“ des Schaffens geschrieben. Titel: „Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft.“

Herfried und Marina Münklers Buch „Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft.“: Anleitung zum „Wir schaffen das“
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Berlin. Schon seit Wochen stimmen sich politische Krisen-Beschwörer auf den 4. September ein, den Jahrestag des Telefonats zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem damaligen österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann, in dem die beiden Regierungschefs die Entscheidung trafen, eine Gruppe Flüchtlinge aus Ungarn durchreisen zu lassen.

Was vor einem Jahr zigtausende Deutsche mit Willkommens-Gesten und spontanen Hilfsaktionen an den Bahnhöfen als humanitäre Geste feierten, haben zur Neuen Rechten tendierende Stimmen und Medien wie das Magazin „Cicero“ mit Erfolg zu einem Dammbruch umgedeutet, zu einem schwarzen Tag, an dem die Kanzlerin die EU und das Land gespalten habe. „Cicero“-Chefredakteur Christoph Schwennicke schreckte nicht davor zurück, auf dem Titel seines aktuellen Hefts eine stilisierte, gesichtslose Menschenmasse mit der Zeile „Merkels Marschbefehl“ zu garnieren.

Den Freunden der schlechten Botschaft hält der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler die „Gotteswette“ des französischen Mathematikers Blaise Pascal (1623-1662) entgegen. Pascal argumentierte, dass wer an Gott glaube, immer die besseren Gewinnaussichten habe: Glaube man und Gott existiere, gewinne man den Himmel. Glaube man und Gott existiere nicht, gewinne man zwar nichts — aber man verliere auch nichts. Glaube man nicht an Gott und er existiere auch nicht, gewinne man nichts. Glaube man nicht, Gott existiere aber doch, lande man in der Hölle. „Wenn wir das dieser Wette zugrundeliegende Kalkül auf die Frage nach dem Erfolg oder Scheitern der Flüchtlingsintegration übertragen, so ist es vernünftig, auf den Erfolg zu setzen, weil nur dieser einen gesellschaftlichen Ertrag hat — während der, der auf das Scheitern setzt, nichts gewinnt, sollte er recht behalten“, schreibt Münkler gemeinsam mit seiner Frau, der Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler, in einem bemerkenswert unaufgeregten Buch.

Münkler ist einer der wenigen deutschen Politikwissenschaftler, die man auch außerhalb ihrer Uni-Institute kennt, und einer der einflussreichsten. Als die Haus- und Hof-Philosophen des Talkshow-Fernsehens, Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk, zu Jahresbeginn in der Flüchtlingsdebatte rigiden Grenzsicherungen das Wort redeten, Sloterdijk gar von „Überrollung“ und „Souveränitätsverzicht“ sprach, bescheinigte Münkler beiden Denkern „Unbedarftheit“ und der Suggestion ihrer eigenen „unterkomplexen Antworten“ erlegen zu sein; Sloterdijk riet er, als öffentlicher Intellektueller einfach abzudanken.

Was Münkler und Gattin nun auf 256 Seiten mit dem Titel „Die neuen Deutschen: Ein Land vor seiner Zukunft“ zusammengetragen haben, ist in pragmatischer Absicht geschrieben: „Unsere Überlegungen sind von dem theoretischen Impetus getragen, Komplexität zu reduzieren, um konkretes Handeln zu ermöglichen; und sie sind von dem praktischen Impetus angestoßen, Lösungen für Probleme zu finden.“ Entsprechend ist „ein politisches Buch, kein erbauliches“ daraus geworden. Ohne sich im Kleinklein des Alltags zu verlieren oder in die große Welterklärung zu flüchten, liefert das Buch die „Wie“-Anleitung zum „Wir schaffen das“ der Kanzlerin.

Dazu gehört zuerst eine nüchterne Bestandsaufnahme, die einerseits nicht die Risiken der Flüchtlingszuwanderung leugnet, andererseits aber auch die Chancen nicht kleiner redet, als sie sind. Natürlich wäre es besser, wenn die Zuwanderung dosiert, an der hiesigen Aufnahmefähigkeit orientiert und durch behördliche Auswahl der Zuwandernden stattfände, doch: „Diese Politik ist in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten, seitdem sie angezeigt war, nicht betrieben worden.“ Nun werde es teuer werden, am Ende vielleicht bis zu 200 Milliarden Euro, räumen die Münklers ein. Zudem werde es lange dauern, könne am Ende immer noch scheitern, und auf jeden Fall werde es Enttäuschungen geben. Es seien nicht alle brauchbar, die kämen - und es werde auch zu Konflikten kommen.

Das dürfte schon damit beginnen, wie die Autoren „die neuen Deutschen“ und das „Deutschsein“ an sich definieren. „Die alten Deutschen sind dabei jene, die an der ethnischen Geschlossenheit des Volkes hängen und sich nichts anderes für die Zukunft vorstellen können. Die neuen Deutschen sind in diesem Fall nicht die Neuankömmlinge, die sich ja überhaupt noch entscheiden müssen, ob sie überhaupt Deutsche werden wollen, sondern jene, die auf ein weltoffenes und nicht mehr ausschließlich ethnisch definiertes Deutschland setzen“, so Münkler und Münkler.

Die beachtliche Kluft zwischen diesen beiden Seiten müsse „wieder geschlossen werden, wenn man die bevorstehenden Aufgaben bewältigen will. Eine Grundlage dafür könnte die Einsicht sein, dass Deutschland dauerhaft auf Zuwanderung angewiesen ist, wenn es das bleiben möchte, was es zurzeit noch ist — sowohl im Hinblick auf den materiellen Wohlstand des Landes als auch auf die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats.“

Die rechts-völkische Vorstellung, dass in Wahrheit nur Deutscher sein könne, wer hier geboren sei und wessen Vorfahren schon seit Generationen hier gelebt hätten, weisen die Münklers als bloße Behauptung zurück, „mit der die Alteingesessenen gegenüber den Tüchtigen und Leistungsfähigen privilegiert werden. Sie sagen ,deutsch’, aber sie meinen Selbstprivilegierung. Die Vorstellung des Deutschseins dient hier dem Selbstschutz derer, die sich vor einem Leistungsvergleich scheuen und keinerlei Konkurrenz ausgesetzt sein wollen. Es ist die Schließungskategorie einer gealterten, erschöpften und müden Gesellschaft, die es sich in irgendeiner Nische bequem machen und nicht gestört werden will.“

Die Krux daran: Wenn es nicht Herkunft und kulturelle Traditionen sind, die die Identität und den Zusammenhalt einer Gesellschaft ausmachen, muss es eine andere gemeinsame Vision oder Erzählung geben, die Menschen zu einer Nation verbindet. Herfried und Marina Münkler schlagen vor, es etwas amerikanischer anzugehen und führen „fünf Merkmale des Deutschseins“ an, die nicht angeboren sind, sondern zu denen sich die neuen Deutschen bekennen müssten. Die beiden Merkmale, die die Autoren als erstes nennen, mögen zunächst verblüffen: Es sind die Bereitschaft zu Selbstsorge und Leistungswillen in Bezug auf die Gesellschaft sowie das Vertrauen gegenüber der Gemeinschaft, ihm im Notfall beizuspringen und zur Seite zu stehen.

Das entspricht laut einer Studie der Bundesregierung sowohl dem Selbstbild von Deutschen mit als auch ohne Migrationshintergrund: Gefragt, welche Eigenschaften das Land am besten beschrieben, landete bei beiden Gruppen auf den ersten Plätzen „Pflichtbewusstsein“ und „Strebsamkeit“. Bei den Deutschen ohne Migrationshintergrund folgten darauf „Solidarität“ und „Demokratie“, bei den Deutschen mit Migrationshintergrund landete die Demokratie vor der Solidarität.

Als weitere Merkmale des Deutschseins schlagen Münkler und Münkler die Überzeugung vor, „dass religiöser Glaube und seine Ausübung eine Privatangelegenheit sind“, und „dass die Entscheidung für eine bestimmte Lebensform und die Wahl des Lebenspartners in das individuelle Ermessen eines jeden Einzelnen fällt und nicht von der Familie vorgegeben wird“. Der fünfte und entscheidende „Identitätsmarker der Deutschen“ solle und müsse das Bekenntnis zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sein. Eine solche normative Identitätszuschreibung ändere nichts daran, dass diejenigen, die qua Geburt Deutsche seien, dies auch blieben, wenn sie den Vorgaben dieser Zuschreibung nicht genügten: „Aber sie haben dann keine Möglichkeiten mehr, diejenigen, die dieser Zuschreibung genügen und Deutsche werden wollen beziehungsweise es geworden sind, von der Zugehörigkeit auszuschließen.“

In den ersten Besprechungen seit Erscheinen des Buches in der vergangenen Woche merkten mehrere Kommentatoren an, es würde den „Merkmalen des Deutschseins“ nicht geschadet haben, wenn Herfried und Marina Münkler auch das Beherrschen der deutschen Sprache hinzugefügt hätten. Der Einwand ist unsinnig, da die Autoren in elf „Imperativen der Integration“, die den wesentlichen Kern des Buches ausmachen, die sprachliche Integration als selbstverständlich voraussetzen. Gerade die „Integrations-Imperative“ leiten aus vielen Versäumnissen der Vergangenheit und der Gastarbeiter-Einwanderung der 60er und 70er Jahre Forderungen für ein besseres Gelingen der Flüchtlings-Integration ab.

Aus dem Katalog der Imperative: Bei Jugendlichen kein Empfinden der Überflüssigkeit entstehen lassen. Die nichtberufstätigen Ehefrauen einbinden und nicht sich selbst überlassen. Sich auf die unterschiedlichen Herkünfte der Menschen (Stadt oder Land, traditionell oder modern) einlassen. Schulen zu Räumen der Integration und nicht der Trennung machen. Langfristige Perspektiven fördern und damit den Sog in Parallelgesellschaften verhindern. Nicht auf die Religion schieben, was soziale Ursachen hat. Das „Apartheidsregime“ der getrennten Wohngebiete zurückstutzen. Die Regulation des Arbeitsmarkts begrenzen, die Alteingesessene bevorzugt und Neuankömmlinge benachteiligt. Diskriminierung bei Bewerbungen unterbinden. Und die Zeitfenster für einen Spurwechsel und einen Neuanfang so lange wie möglich offen halten.

Die „FAZ“ kritisierte mit geheucheltem Fragezeichen, Herfried und Marina Münkler hätten ein 300 Seiten langes „Wir schaffen das“ verfasst und 500 Jahre nach Thomas Morus’ „Utopia“ das Genre der der Sozialutopie wiederbelebt. Das kann man so sehen. Oder das Buch als Anleitung zur Schaffung eines Landes lesen, dessen beste Zeiten noch kommen. Jedenfalls ist es der klügste Debatten-Beitrag, den das Lager der Zuwanderungs-Befürworter seit dem 4. September 2015 hervorgebracht hat.

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