AKW Angst vor Strahlung aus Belgien

Berlin/Brüssel. Zum ersten Mal hat Deutschland ein Nachbarland offiziell aufgefordert, Atomkraftwerke wegen Sicherheitsbedenken mindestens vorübergehend stillzulegen.

In Deutschland schließen sich die Reihen gegen das umstrittene AKW Tihange.

In Deutschland schließen sich die Reihen gegen das umstrittene AKW Tihange.

Foto: Oliver Berg

Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) äußerte diese "Bitte" gegenüber der belgischen Regierung. Die dortigen Druckwasserreaktoren Tihange 2 und Doel 3 weisen Risse auf, die nach Überzeugung hiesiger Sicherheitsexperten zwar im Normalbetrieb kein Problem sind. Jedoch sei unklar, ob sie bei Störfällen standhalten. Belgien wies das Ansinnen zurück.

Im Berliner Umweltministerium wurde der Schritt gestern damit begründet, dass man die Sicherheitsinteressen deutscher Bürger in den Grenzregionen, besonders im Raum Aachen, zu vertreten habe. Tihange liegt nur 60 Kilometer entfernt. Die belgische Atomaufsichtsbehörde AFCN erklärte, sie sei überzeugt, "dass Doel 3 und Tihange 2 internationale Sicherheitsstandards einhalten."

Es sei deshalb nicht nötig, sie abzuschalten. Die Behörde zeigte sich über den Vorstoß von Hendricks "überrascht". Man sei immer bereit, mit den deutschen Partnern zusammenzuarbeiten, "vorausgesetzt, dass es auf deutscher Seite den Willen gibt, in einer konstruktiven Weise zu kooperieren."

Die beiden Reaktoren waren seit 2012 wegen der festgestellten Risse mehrfach zeitweise stillgelegt worden, gingen aber Ende 2015 wieder ans Netz. Die deutsche Reaktorsicherheitskommission sah jedoch ihren umfangreichen Fragekatalog, den sie der AFCN vorgelegt hatte, nicht ausreichend beantwortet. In der letzten Woche stellte die Kommission daraufhin in einer Kurzstellungnahme für die Ministerin fest, dass "nicht bestätigt" werden könne, dass die Anlagen die "Sicherheitsabstände" zu möglichen Havarieszenarien einhielten. Mit anderen Worten: Der Sicherheitspuffer ist zu gering.

Es geht, wurde gestern in Berlin erläutert, nicht um sichtbare Risse, sondern um tausende mikroskopische Einschlüsse, die schon bei der Herstellung des Stahls durch eine Rotterdamer Firma entstanden sind. Mit Verschleiß hätten sie nichts zu tun, auch wüchsen sie nicht. Nach deutscher Auffassung sind weitere theoretische Berechnungen sowie zeitaufwändige praktische Experimente mit dem gleichen Stahl notwendig. Der verwendete Stahl wurde sonst in keinem weiteren Kraftwerk in Europa für Reaktordruckgefäße verbaut. Alle deutschen Atomkraftwerke seien, hieß es im Umweltministerium, inzwischen auf einen ähnlichen Fehler überprüft worden, ohne Treffer.

Belgien ist zu 50 Prozent von Atomstrom abhängig, der von diesen beiden über dreißig Jahre alten Standorten kommt. Allerdings könnte das Land über den deutsch-niederländischen Stromverbund ersatzweise versorgt werden. Die atompolitische Sprecherin der Grünen, Sylvia Kotting-Uhl, lobte die "richtige Haltung" von Hendricks und forderte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) auf, die Ministerin zu unterstützen. Das dürfte bereits der Fall sein, denn Hendricks hatte das Kanzleramt und das Außenministerium über ihren Vorstoß vorab informiert, hatte also offenb ar deren Rückendeckung. Auch Nordrhein-Westfalen begrüßte den Vorstoß.

Der Vorgang könnte beispielhaft für die Diskussion um die Atomkraftwerke in den anderen Nachbarländern sein, vor allem in Frankreich und Tschechien. Viele stehen direkt an der Grenze zu Deutschland, sind alt und machen den Menschen in den Regionen große Sorgen. Allerdings hieß es gestern im Umweltministerium, mit Frankreich und Tschechien habe man alle Zwischenfälle und Fragen bisher klären können.

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