Ausland Afghanistan: Die Kinder leiden am meisten

Der endlose Krieg fordert immer mehr zivile Opfer — vor allem Kinder. Kämpfe spielen sich zunehmend in dicht besiedelten Gebieten ab. Strategisch hatte Afghanistan schon immer eine große Bedeutung.

Ausland: Afghanistan: Die Kinder leiden am meisten
Foto: Uli Preuss

". . . wir waren dreizehntausend Mann, von Kabul unser Zug begann, Soldaten, Führer, Weib und Kind, erstarrt, erschlagen, verraten sind. Zersprengt ist unser ganzes Heer, was lebt, irrt draußen in Nacht umher, mir hat ein Gott die Rettung gegönnt, seht zu, ob den Rest ihr retten könnt. . . “

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Kabul. Theodor Fontane beschreibt in seiner Ballade den katastrophalen Ausgang des ersten der drei angloafghanischen Kriege bis 1842. Schon damals kämpften Kolonialmächte um die Vorherrschaft am Hindukusch. Auch später sollte die Bevölkerung herhalten müssen für die wirtschaftlichen und militärischen Ziele anderer.

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Strategisch hatte Afghanistan immer eine große Bedeutung. Deutschland hat nie koloniale Ansprüche an Afghanistan gestellt. Mit ein Grund, warum unser Land bei den Afghanen beliebt ist. 1923 wurde die erste deutsch-afghanische Handelsgesellschaft gegründet. Der Kölner Wilhelm Rieck, als Bauingenieur 1922 in Kabul, beschreibt das Entstehen des Darulaman-Palastes in seinen Tagebüchern. Der Palast, dem Reichstag nachempfunden und im Krieg zerstört, soll bald wieder aufgebaut werden.

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Deutschland gibt hier — wie auch in die Erneuerung der berühmten Gärten in Kabul und in die Infrastruktur des ganzen Landes, Geld zum Wiederaufbau. Bis 1989 war es der afghanisch-russische Krieg, der 18 000 afghanischen Soldaten und 14 000 Russen das Leben kostete. Weit höher ist die Zahl der zivilen Opfer. Mehr als eine Million sollen es sein.

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Im Gegensatz zu Armeen, die wie im Vietnamkrieg den Erfolg- oder Misserfolg durch das so genannte Body counting nachwiesen, sind exakte Zahlen zu zivilen Opfern im Land kaum möglich. Während der russischen Besatzung und danach flohen über drei Millionen Afghanen ins Ausland oder als Binnenflüchtlinge im Land selbst von A nach B.

Erst die Russen, dann die bürgerkriegsähnlichen Zustände ab Anfang der 90er Jahre stürzten das Land in Anarchie. Viele Gebiete gerieten unter die Kontrolle so genannter Warlords. Plünderungen, Massenerschießungen und Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Hinzu kommen noch heute ethnische Konflikte, unter deren Auswirkungen immer noch Volksminderheiten wie die aus Nordafghanistan stammenden Hazara leiden.

Die Schreckensherrschaft der Taliban, die ab Mitte der 90er Jahre die Afghanen ins tiefe Mittelalter zurückwarf, dauerte bis in den November 2001 und wurde anfänglich von Pakistan und den USA unterstützt. Das Land war bald international isoliert, die Wirtschaft lag am Boden.

Im Dezember 2001 landete ich mit einem Team der Oberhausener Kinderhilfsorganisation Friedensdorf International auf der Airbase Bagram, weil der Flughafen in Kabul noch zerstört war. Kondensstreifen am Himmel ließen amerikanische B52 Bomber erahnen, die ihre Last auf die Festung Tora Bora abwarfen.

Schon damals wurde mit der Daisy Cutter eine ähnlich starke Bombe abgeworfen wie unlängst die „Mutter aller Bomben“ im Distrikt Nangahar. Im Kabul nach der Taliban-Herrschaft atmeten die Menschen auf. Postkarten, etwa von den heiligen Statuen von Bamiyan, von den Taliban gesprengt und selbst auf Bildern verboten, wurden wieder offen auf der Ladentheke gezeigt. Das Land versuchte zur Normalität zu finden, doch es gab so viele zivile Opfer.

Von verzweifelten Eltern wurden den Friedensdorf-Helfern Kinder gebracht, die schlimmste Explosionsverletzungen hatten. Ich habe Erinnerungen an Zehnjährige, denen zerstörte Beine und Arme amputiert werden mussten und denen zu allem Übel die Antipersonenmine noch das Augenlicht genommen hat.

Kabul hatte — wie im Afshar-Distrikt — Stadtteile, die vom jeweiligen Gegner regelrecht pulverisiert worden waren. Opfer der Kämpfe von einst gibt es immer noch. In Marastoon, einer vom afghanischen roten Halbmond betriebenen Einrichtung für Kriegsopfer mit psychischen Schäden zucken immer noch Patienten auf ihrer Pritsche zusammen, wenn auch nur eine Fliege gegen die Scheibe fliegt.

Wer 2001 in Kabul 25 Jahre alt war, hat nie etwas anderes kennengelernt, als Unmenschlichkeit, Vernichtung und Grausamkeit. Dem Sieg gegen die Russen, dem Schlachten der Mudschaheddin und dem Sieg gegen die Taliban folgte der nächste Krieg nahtlos.

Gleich nach der Jahrtausendwende schickte Deutschland nach und nach fast 5500 Soldaten im ISAF-Einsatz an den Hindukusch. Mit einem hohen Preis: 56 deutsche Soldaten fielen zwischen 2001 und Dezember 2014, 170 wurden schwer verwundet und mehr als 400 leiden heute noch unter posttraumatischen Belastungsstörungen.

Der teuerste Einsatz in der Geschichte der Bundeswehr verbrauchte 8,9 Milliarden Euro. Auf seinem Höhepunkt 2012 kämpften nahezu 130 000 Soldaten aus 48 Ländern gegen einen Gegner, der sich mal Gefechte lieferte, mal unsichtbar blieb. Es gab nie Fronten, nie nach der Genfer Konvention klar umrissene Kampfgebiete. Während die Sowjets noch auf Karten markierte Minengebiete wieder räumten, verlegten die Taliban diese Minen willkürlich. Das führt bis heute dazu, dass im Land schlummernde Minen erst entdeckt werden, wenn sie explodieren. Der asymetrische Krieg eines verschlagenen Gegners blieb nicht ohne Folgen. Eine hochtechnisierte Riesenarmee hat, gemessen am Aufwand viel zu wenig ausrichten können in einem Land, dessen gewaltige Gebirge fünf Siebentausender und sechs Sechstausender und dazwischen geografische Unüberwindbarkeit für die westlichen Angreifer bereithält. Hightec-Universalsoldier kämpften gegen Männer in Latschen, die ortskundig und an die widrigen Bedingungen gewöhnt, mit einfachen Kalaschnikows bewaffnet, mit einer Handvoll Tee im spärlichen Gepäck aufbrachen und monatelang im unüberschaubaren Gelände verschwanden, bis sie gebraucht wurden.

Heute weiß man: Mehr als 80 der rund 400 afghanischen Distrikte waren gleich nach dem Ende der ISAF-Operation immer noch oder wieder unter Kontrolle der Taliban. Aktuell gesteht selbst die Regierung ein, dass sie kaum mehr als 57 Prozent des Landes unter Kontrolle hat. In vielen Gebieten haben die Gotteskrieger wieder ihre Strukturen aufgebaut. Besonders für Frauen dort ein unhaltbarer, oft gefährlicher Zustand. Dabei ist es still geworden um das internationale Militär.

Auf deutscher Seite sind es aktuell noch 875 Mann, Militärberater oder Sicherungssoldaten, die deutsche Aufbauhelfer im Raum Kundus und Faizabad schützen sollen. Fatal ist der Zustand und die Wirkung der afghanischen Armee. Trotz westlicher, auch deutscher Ausbilder, trotz verbesserter Strukturen, trotz modernerem Kriegsgerät. Denn die Taliban und neuerdings die Kämpfer des IS führen ihren heimtückischen Krieg weiter. Und die afghanische Armee verliert Kämpfe, Boden, Sympathien im Land und Einfluss in den Provinzen — und statistisch 22 Soldaten — täglich.

Jüngstes Beispiel sind der Überfall auf ein Militärkrankenhaus in Kabul im März, das verheerende Attentat auch gegen die deutsche Botschaft im Juni und der Angriff von Talibankämpfern auf einen Armeestützpunkt nahe Marza i Sharif. Dort erschossen die Angreifer an einem heiligen Freitag 140 Soldaten. Laut „Spiegel“ und „FAZ“ ist die afghanische Infanterie als wesentliche Teilstreitkraft nur bedingt einsatzbereit. Zusammen mit Gefallenen und Deserteuren verlor die ganze Armee 2016 ein Drittel ihrer Soldaten.

Und die Ordnungskräfte? Was wird aus einem Land, in dem die Exekutive allmählich in Kämpfen und Attentaten aufgerieben wird? Eine Rolle rückwärts ins Mittelalter wird es geben, wenn konservative Radikalislamisten wieder an die Macht kommen und den nächsten Gottesstaat ausrufen. Auch kann es für Afghanistan nicht ohne Folgen bleiben, wenn Kämpfer des IS aus Syrien vertrieben werden. Schon jetzt wird besonders auf dem Land schiere Angst verbreitet. Dorfälteste, Lehrer, Beamte werden getötet, ganze Familien eingeschüchtert oder brutal bestraft. Viele sind längst aus den Provinzen geflüchtet, leben in Kabul in erbärmlichen Lagern.

Doch auch im Raum Kabul kam es seit April 2016 zu 24 schweren Attentaten, in deren Verlauf mehr als 500 Menschen getötet und die doppelte Anzahl schwer verletzt wurde. Laut UNHCR waren es landesweit im ersten Halbjahr 2016 rund 1700 Zivilisten, die durch Anschläge ums Leben kamen, seit 2009 starben so 22 000 Zivilisten. Die Radikalislamisten schüchtern die Bevölkerung ein. Da reichen Kleinigkeiten. Wer als Bauer auf dem Land ein westlich wirkendes Stück Papier oder ein Kleidungsstück bei sich trägt, riskiert sein Leben oder das seiner Familie. Die Menschen dort sind sehr arm und dennoch bedingungslos gastfreundlich. Und nach Bewirtungen und Gesprächen weiß man: Hier fehlt ein Vater, da die Frau, da die Kinder. Wer durch Kabul fährt, tut das als westlich aussehender Mensch besser unauffällig. Man fährt an Betonwällen vorbei. davor schlecht bezahlte Wachposten, die sich an der Kalaschnikow genauso billig verdingen müssen, wie es die Tagelöhner an den Ausfallstraßen der Stadt tun. Unsägliche Armut, auch sie ist das Ergebnis vieler Kriegsjahrzehnte.

Hinter den Mauern leben die Bessergestellten, sind die Ministerien, die internationalen Organisationen, die Botschaftsangehörigen. Denn nur wer Geld und Einfluss hat, kann sich in Kabul von heute wirklich schützen. Vor all dem flüchten die Menschen.

In Deutschland gibt es mehr als 12 000 ausreisepflichtige Afghanen, darunter auch Kriminelle und „Gefährder“. Laut der „Passauer Neuen Presse“ wurden 2015 noch 77 Prozent Afghanen anerkannt, ein Jahr später noch 60 Prozent und bis Ende Februar 2017 wurde nur noch 48 Prozent der Flüchtlinge das Bleiberecht gewährt. Dabei bezeichnet das Heidelberger Institut für Konfliktforschung Afghanistan als Kriegsland. In ihm und 17 weiteren Ländern toben ausgewachsene Kriege. Ganz schwarz malt der Global Peace Index die Zukunft am Hindukusch. Neben Syrien sind es besonders die Länder Afghanistan und Pakistan, die die geringste Aussicht auf Frieden haben. Der Weg zum Kabuler Flughafen ist eine Fahrt zwischen Wällen und Dutzenden von Maschinengewehrmündungen. Und dennoch kommt es zu Attentaten. Wohl dem, der nach strengen Kontrollen endlich am Flughafen ist und ausfliegen kann.

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