„Nie zu spät für die Gerechtigkeit“

Der 90-jährige Kriegsverbrecher Josef Scheungraber ist zu lebenslanger Haft verurteilt worden.

München. Die Worte "verità" und "giustizia" sind oft zu hören an diesem Tag in dem schmucklosen Münchner Strafjustizzentrum. Späte Gerechtigkeit ist den Opfern und ihren Angehörigen 65 Jahre nach dem Massaker durch deutsche Soldaten bei Cortona in der Toskana zuteil geworden. Das Münchner Schwurgericht verurteilte den ehemaligen Wehrmachtsoffizier Josef Scheungraber am Dienstag in einem der letzten NS-Kriegsverbrecherprozesse in Deutschland wegen Mordes an zehn italienischen Zivilisten zu lebenslanger Haft.

Der heute 90-Jährige hatte nach Auffassung des Münchner Schwurgerichts im Juni 1944 den Befehl gegeben, aus Rache für einen Partisanenüberfall in dem Weiler Falzano di Cortona ein Haus mit elf Gefangenen in die Luft zu sprengen. Unter den Opfern waren auch Jugendliche und alte Männer. Nur ein 15-Jähriger überlebte.

Scheungraber hatte nach dem Krieg in Ottobrunn bei München als angesehener Bürger gelebt. Der Inhaber einer Schreinerei gehörte 20 Jahre dem Gemeinderat an, war Träger der Bürgermedaille und Ehrenkommandant der Freiwilligen Feuerwehr. Viele hatten mit seinem Freispruch gerechnet, denn niemand erinnerte sich genau, ob Scheungraber wirklich den Befehl für das Massaker gegeben hatte.

Doch der Vorsitzende Richter Manfred Götzl tritt einen akribischen Beweis an: Nach dem Tod zweier Soldaten in dem Partisanenhinterhalt habe es einen Sühneakt geben müssen. "Der Hass der Soldaten auf die Partisanen war groß." Für einen solchen Racheakt war "aus militärischer Sicht die Anwesenheit eines Offiziers notwendig". Der einzige Offizier am Ort wiederum war Scheungraber. Ein unkontrollierter Exzess der Soldaten scheide damit aus, denn für die Aktion wurden der Ort systematisch durchkämmt und alle Männer festgenommen, argumentiert der Richter.

Als Götzl den Schuldspruch verkündet, klatschen die Zuschauer im Gerichtssaal. Scheungraber selbst nimmt das Urteil scheinbar reglos auf. Mit halb geschlossenen Augen verfolgt er die eineinhalbstündige Urteilsbegründung, das Hörgerät im Ohr. Vorsorglich hat Götzl ihn zuvor gefragt, ob das Gerät auch richtig sitzt - die knapp 40 Sitzungstage gegen den alten Mann waren immer einmal wieder unterbrochen worden von Schwierigkeiten mit dem Hörgerät.

"Das Urteil bedeutet für mich, dass es nicht möglich ist, die Wahrheit auf Dauer zu verstecken", sagt Andrea Vignini, Bürgermeister von Cortona. "Es ist nie zu spät für Gerechtigkeit." Vignini ist zusammen mit Margerita und Angiola Lescai nach München gereist. Margerita hat bei dem Massaker Großvater und Vater verloren. Ihre Mutter heiratete wieder, Angiola ist ihre jüngere Halbschwester. "Es soll eine Ermahnung sein für die Zukunft: Auch im Krieg darf es bestimmte Dinge nicht geben, es gibt eine persönliche Verantwortung", sagt Angiola.

Wie die allermeisten anderen Bewohner von Falzano di Cortona sind die Halbschwestern nach dem Massaker mit der Mutter weggezogen. In dem früher 600 Einwohner zählenden Ort leben heute noch ein halbes Dutzend Menschen. "Die Erinnerung war unerträglich", sagt Margerita.

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