Ausblick 2016 — das Jahr der Chancen für Deutschland

Ein Vierteljahrhundert lang träumten die Deutschen, Frieden und Demokratie würden sich nach dem Ende des Kalten Krieges von selbst einstellen. Dieser Traum ist 2015 endgültig geplatzt. 2016 kommt es nun darauf an, die Herausforderungen der Gegenwart anzunehmen.

Ausblick: 2016 — das Jahr der Chancen für Deutschland
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Berlin. Zumindest das Ausland weiß, was es von der Bundesrepublik erwartet: Deutschland muss seine internationale Führungsrolle deutlicher und selbstbewusster spielen. Dabei darf es nicht in schulmeisterliche Arroganz verfallen, aber es sollte seine bisweilen übertrieben zur Schau getragene Demut ablegen. Deutschland muss sich klarer werden, dass die Welt in unsicheren Zeiten auf Berlin und Angela Merkel blickt. Es muss die Rolle des Global Players konstant ausfüllen und innerhalb des Westens ein aufgeklärtes Gegenwicht zu den USA bilden. So gaben es Ende 2014 in einer Studie der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit 179 Deutschlandkenner aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur in 26 Ländern zu Protokoll.

„Es gibt eine neue ,Wir-können-es machen’-Nation. Sie heißt Deutschland. Die Vereinigten Staaten, von Angst geritten, haben die Fackel übergeben“, schrieb der New-York-Times-Kolumnist Roger Cohen vor einigen Tagen über Angela Merkels Flüchtlingspolitik. 2016 hat Deutschland tatsächlich die Chance, sich seiner Herausforderung durch die Gegenwart zu stellen und aus dem Koma eines geplatzten Traums aufzuwachen: der edlen, aber irrigen Hoffnung der Jahre 1989/90 nämlich, mit dem Ende des Kalten Krieges und der Überwindung der deutschen Teilung werde sich von Vancouver bis Wladiwostok „ein trikontinentaler Friedensraum auf der Grundlage der Demokratie“, wie es der Historiker Heinrich August Winkler im abschließenden Band seiner „Geschichte des Westens“ formuliert, quasi irgendwie von selbst entwickeln.

Joschka Fischer, früherer Bundesaußenminister

Solchen Erwartungen, so Winkler, hätten die Ereignisse des Jahres 2014 „den Boden entzogen“. Es sagt viel über uns Deutsche, dass das Wunschdenken vom demokratischen interkontinentalen Friedensraum ein teils äußerst widriges Vierteljahrhundert überdauerte. Der 60-sekündige Kinospot, den die Bundesregierung zum 25. Jahrestag der Einheit am 3. Oktober von Filmproduzent Nico Hofmann („Dresden“, „Die Flucht“, „Unsere Mütter, unsere Väter“, „Bornholmer Straße“ etc.) herstellen und in 1001 Kinos vorführen ließ, beginnt mit einer sentimentalen Frauenstimme, die zu weichgezeichneten Bildern säuselt: „Ich bin ein lang ersehnter Traum, ein Kind der Freiheit.“

Zu sehen ist ein glückliches Land, in dem Luftballons in einen schönen Himmel steigen. Diesen Traum träumten die Deutschen, als am 31. März 1991 der Warschauer Pakt offiziell aufhörte zu existieren. Sie träumten ihn weiter, als sich aus dem Grab des Kalten Krieges drei Höllen-Geister als seine Erben erhoben: Entfesselter Nationalismus, religiöser Fundamentalismus und internationaler Terrorismus. Sie träumten sich durch den Golfkrieg, bald darauf durch den Balkankrieg, den 11. September und den Afghanistan-Krieg. Für ihren Traum nahmen sie es hin — wenn auch ohne innere Akzeptanz —, dass der damalige Außenminister Joschka Fischer (Grüne) im April 1999 die deutsche Außenpolitik um die Doktrin erweiterte: „Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz.“

Es störte die Deutschen in ihrem Traum nicht, die Bundeswehr an der Seite ihrer Verbündeten in Einsätze zu schicken, die doppelt so lange dauerten wie der Zweite Weltkrieg, und die sie weder steuern noch erfolgreich beenden konnten. Den nächsten Irak-Krieg ließen sie aus, aber sie träumten sich selbst den anbrechenden islamischen Herbst ab 2010 als einen „arabischen Frühling“ zusammen. Und noch am Ende des Jahres 2014, nach der russischen Besetzung der Krim, der gefährlichen Ukraine-Krise, dem Erstarken des Islamischen Staats und dem immer unkontrollierter eskalierenden Syrien-Krieg mochten sie nicht wirklich aufwachen. Dann kamen die Flüchtlinge.

Im Januar übernimmt Deutschland zum ersten Mal nach 1991 wieder den Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die OSZE, der alle europäischen Staaten (mit Ausnahme des Kosovo), die USA und Kanada, die Türkei, Russland und die übrigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion angehören, ist seit der Ukraine-Krise die letzte verbliebene Gesprächsplattform, auf der der Westen und Russland sich im ständigen Gespräch befinden. Der große Vorteil von 57 Mitgliedsstaaten ist zugleich ihre große Schwäche: In der OSZE fallen Entscheidungen nur im Konsens und verpflichten zu nichts. Seit mehr als einem Jahrzehnt hat sich die Organisation nicht mehr auf gemeinsame Beschlüsse einigen können.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat als Motto des deutschen Vorsitzes „Kooperation statt Konfrontation“ ausgegeben. Und auch das Ziel ist klar: Die Gestaltung einer neuen europäischen Sicherheitsordnung.

Im Vorfeld des deutschen Vorsitzes gehen die Hoffnungen bis hin zu einem „neuen Helsinki“ in Anlehnung an die Schlussakte der Vorgänger-Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Sie enthielt die Spielregeln, um aus dem kalten keinen heißen Krieg werden zu lassen: Keine Androhung oder Anwendung von Gewalt, Unverletzlichkeit der Grenzen und territoriale Integrität, friedliche Regelung von Streitfällen, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten — Prinzipien, die 1975 mit Ausnahme der kommunistischen Partei Albaniens und der CDU Deutschlands von allen anerkannt und bis zur völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland 2014 weitgehend eingehalten wurden. 2016 einen erfolgreichen Neustart — oder zumindest einen Gipfel der 57 OSZE-Staats- und Regierungschefs — zu erreichen, dürfte nicht einmal Steinmeier als dem erfolgreichsten und ausdauerndsten europäischen Diplomaten gelingen. Aber unter dem deutschen Vorsitz kann ein Anfang gemacht werden. Und dieser Anfang kann Impulse für Gespräche und Einigungen auf anderen Ebenen geben: innerhalb der EU, in der Syrien-Konferenz und etlichen weiteren Konflikt- und Krisenherden von Mali über Libyen bis hin zu den von Russland zuletzt destabilisierten Balkan-Staaten.

Dies bedeutet für die Kanzlerin zugleich eine innenpolitische Herausforderung — weil die Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik spätestens mit der Flüchtlings-Krise gefallen sind. „Als Merkel im vergangenen Sommer beschloss, die Flüchtlinge aufzunehmen, wendete sie damit einen Gewaltausbruch ab, der leicht hätte außer Kontrolle geraten können“, so Roger Cohen in der New York Times: „Kritiker in ihrer eigenen christlich-demokratischen Partei porträtieren sie als emotional. Aber für eine Anführerin, die der Erhaltung der europäischen Idee verpflichtet ist, war ihre Entscheidung rational.“

Innen- wie außenpolitisch wird Angela Merkel 2016 mehr Verbündete gewinnen müssen, aber der Schlüssel läge in einem Durchbruch bei der Syrien-Konferenz.

Auf die USA kann Merkel — wie bereits in der Ukraine — dabei kaum zählen. Als Barack Obama im Frühjahr 2014 vor Absolventen der Militärakademie West Point den Führungsanspruch der USA betonte, aber zugleich erklärte, es sei nicht jedes Problem ein Nagel, bloß weil man den besten Hammer habe, erkannten selbst die Gutwilligsten, dass der intelligenteste und zugleich schwächste US-Präsident seit Jimmy Carter gerade begann, seinen Abschied von der Weltbühne zu nehmen.

Joschka Fischer beschrieb die Gefahr, die daraus für Deutschland 2016 resultiert, jüngst so: „Die Europäer allein sind militärisch und politisch zu schwach, um die Dinge in Syrien wirklich beeinflussen zu können, und deshalb droht ein aus der Not geborenes De-facto-Bündnis mit Putins Russland, weil Washington die Führung verweigert.“

Umso wichtiger war noch vor Weihnachten das Signal an Putin, ihn in Syrien eine entscheidende Rolle spielen zu lassen — und gleichzeitig die EU-Sanktionen zu verlängern. 2016 wird für die deutsche Politik das herausforderndste Jahr seit der deutschen Einheit. Wenn das Land die Herausforderung annimmt, dann wird es ein Jahr der Chancen.

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