Wenlock: Das Olympische Dörfchen

Seit 1896 tragen die Bewohner von Wenlock ein besonderes Turnier aus — die Goldmedaille für Schrulligkeit ist ihnen damit sicher.

Much Wenlock. London 2012? Pah! Schrulligkeit siegt — und die Goldmedaille hierfür geht an einen winzigen Ort bei Birmingham. Hier, und nicht in Athen, liegen die Wurzeln der modernen olympischen Spiele: Die schräge, viktorianische Dorf-Olympiade von Much Wenlock hat die Hellenen 1896 überhaupt erst dazu inspiriert, ihren Wettkampf neu aufleben zu lassen. Ehrensache, dass die Provinzbürger auch dieses Jahr wie eh und je gegeneinander antreten und zeigen, dass Selbstgemachtes mehr Charme hat als das Mega-Sportspektakel.

„Wegen London 2012 sind wir gebeten worden, die Dorfolympiade dieses Jahr zu verschieben“, sagt Helen Cromarty empört. Schon bei dem Gedanken läuft die Sprecherin der „Wenlock Olympian Society“ zu Höchstform auf. Denn: „Uns gab es ja wohl zuerst. Wir verschieben hier nichts!“ Seit 160 Jahren huldigt die Grafschaft jeden Juli dem Sport, und im britischen Olympia-Jahr erst recht.

Helens rigorose Art kommt nicht von ungefähr. Kaum jemand kennt die unglaubliche Historie des kleinen Sprengels in Shropshire, weshalb sie an vielen Fronten Dampf macht. Es war immerhin der Dorfarzt William Penny Brookes, der die Olympiade von Much Wenlock 1850 ins Leben rief. 1866 veranstaltet er die erste nationale Variante in London. Der olympische Funke aber sprang 1890 richtig über, als der Franzose Pierre de Coubertin, auf der Suche nach Ideen für seine schlappe heimische Armee, in Much Wenlock vorbeischaute. Die Dorf-Olympiade begeisterte ihn.

Er nahm Brookes Idee als Vorlage, gründete kurz später das Internationale Olympische Komitee und 1896 fanden die ersten modernen Olympischen Spiele in Athen statt. Jetzt ist das Dorf geadelt worden: Das Maskottchen der Londoner Sommerspiele 2012, wegen seiner kuriosen Form als „Kreuzung zwischen Augapfel und Pinguin“ verspottet, ist angesichts des historischen Erbes auf den Namen „Wenlock“ getauft worden.

Am Gasthof „The Raven“, wo alles begann, bekehrt Helen Cromarty alle Ungläubigen, die noch immer meinen, Athen hätte ein Monopol auf die Olympia-Geburt. Brookes ließ hier 1850 den ersten kuriosen Umzug starten: Luftig bekleidete Herren zogen hoch zum Hügel an der Windmühle. Hier sollten sie sich messen in klassischen Disziplinen. Es störte den Arzt, dass die Arbeiter von den Feldern und Fabriken in die Kneipe zogen und zu viel tranken, dass sie weder Geist noch Körper fit hielten. Ein Athletik-Spektakel würde ihren Ehrgeiz wecken — und das Rezept der heutigen Spiele ist gar nicht anders als das, was Brookes in Much Wenlock veranstaltete.

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