Unterm Todesstreifen: Flucht in die Freiheit

Tunnel untergruben in Berlin die Mauer. Abstieg mit dem Zeitzeugen Hasso Herschel.

Berlin. Es war noch dunkel, als der Wahnsinn seinen Lauf nahm: Am frühen 13. August 1961 begannen Grenzsoldaten der DDR mit dem Bau der Berliner Mauer. Über Nacht waren die Bürger Ost-Berlins eingesperrt. „West-Berlin, das letzte Tor zur Freiheit für Untertanen der SED-Diktatur, wurde abgeriegelt.“ So schreiben es Dietmar Arnold und Sven Felix Kellerhoff in ihrem Buch „Die Fluchttunnel von Berlin“.

Als Vorsitzender des Vereins Berliner Unterwelten erforscht Dietmar Arnold seit Jahren die Berliner Fluchttunnel. Bei einem unterirdischen Rundgang vom Gesundbrunnen bis zum früheren Todesstreifen der Bernauer Straße bekommen auch Touristen einen tiefen Einblick in das, was die Menschen auf sich nahmen, um es unter Tage in den Westen zu schaffen — um unter der unüberwindbaren Mauer und dem Todesstreifen her in die Freiheit zu gelangen.

„Oder auch, um Menschen zu einem Leben in Freiheit zu verhelfen“, erzählt Arnold. Mehr als 50 der gut 70 Tunnel, die beim Verein registriert sind, wurden nämlich von Fluchthelfern aus dem Westen Richtung Osten gegraben. „Das war deutlich ungefährlicher.“

Einer der bekanntesten Fluchthelfer ist Hasso Herschel, der unter anderem am „Tunnel 29“ unter der Bernauer Straße entscheidend beteiligt war. 29 DDR-Bürger, darunter Herschels Schwester mit Mann und Tochter, gelangten durch diese knapp 135 Meter lange und sieben Meter tief in der Erde liegende Röhre im September 1962 in die Freiheit.

„Richtige Angst, dass wir entdeckt werden, hatte ich eigentlich nicht“, erinnert sich Hasso Herschel. Als Zeitzeuge begleitet er Besuchergruppen bei Tunnel-Führungen. „Ich hatte auch gar keine Zeit, um über Angst nachzudenken.“ Tag und Nacht haben er und andere Helfer, gebückt und teilweise mit bloßen Händen, gebuddelt. Herschel: „Ich wollte, dass meine Schwester mit ihrer Familie da rauskommt.“ Er selbst hatte die DDR bereits 1961 mit einem gefälschten Schweizer Pass verlassen.

„Den Moment, als meine Schwester und die anderen dann im Westen waren, werde ich nie vergessen. Alle waren einfach nur glücklich“, erzählt der 76-Jährige, während er an der Stelle steht, wo „sein“ Tunnel verlaufen sein könnte. Der Unterwelten-Verein plant, den Herschel-Tunnel wieder teilweise freizulegen. Allerdings ohne die helfenden Hände des Seniors: „Aus dem Alter bin ich raus.“

Damals ernteten der gebürtige Sachse und zwei Italiener, die den „Tunnel 29“ maßgeblich gegraben hatten, jedoch auch Kritik. Sie ließen das Projekt filmen und verkauften die Rechte an den US-Fernsehsender NBC. „Es ging aber absolut nur um die Sache“, wird Herschel in Arnolds Tunnel-Buch zitiert.

In der Tat wiegen die Risiken, die Helfer und Flüchtige auf sich nahmen, weit schwerer als zehntausende Mark. Neben der Gefahr, im Tunnel zu ersticken, drohten mit Schießbefehl ausgestattete Grenzsoldaten, mehrere Jahre Zuchthaus und Repressalien gegen die Angehörigen, wenn das DDR-Regime ihnen auf die Schliche kam.

Das gelang dem totalitären Regime leider viel zu oft: Nur rund 20 Tunnel-Bohrungen zwischen 1962 und 1985 verliefen erfolgreich. Durch sie erreichten mehr als 300 Menschen unversehrt den Westen. Meist im Dunkeln, im Schutz der Nacht.

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