Ultraorthodoxe Juden: Die Gottesfürchtigen

Ultraorthodoxe Juden leben in Israel nach strengen Traditionen. Mit ihrer Lebensweise geraten sie mitunter in Konflikt mit dem modernen Staat.

Düsseldorf. Rabbi Shimon Hurwitz gerät ins Schwärmen, wenn er von seinen religiösen Studien spricht. „Diese Weisheit ist so zeitgenössisch“, sagt er und wirbelt begeistert mit den Händen durch die Luft. „Sie lehrt einen, glücklich zu leben.“

Wer wie Rabbi Hurwitz in die Tiefen der jüdischen Weisheit eintauchen will, muss sehr viel lesen. Eine Wand seines Esszimmers ist bis zur Decke mit religiösen Schriften gefüllt — vom Alten Testament bis zum Babylonischen Talmud.

Seine bescheiden eingerichtete Wohnung liegt im Herzen des tiefreligiösen Viertels Mea Schearim in Jerusalem. Für Außenstehende wirkt das Leben dort sehr fremd. Schwarz gekleidete Männer mit Hut oder Pelzmütze laufen eilig vorbei, die Frauen tragen lange Röcke und Perücken, sie werden begleitet von einer großen Kinderschar. Bilder, die an das Leben in einem jüdischen Schtetl in Osteuropa vor mehr als hundert Jahren erinnern. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein.

Mehrere tausend Menschen leben in dem Viertel, viele Familien haben mehr als zehn Kinder. Sie folgen einer strikten Auslegung des jüdischen Religionsgesetzes, das 613 „Mizvot“ (Gebote oder Vorschriften) festlegt. Besonders wichtig sind das Arbeitsverbot am Sabbat, dem jüdischen Ruhetag, sowie die streng koschere Küche, die das jüdische Reinheitsgebot einhält. Etwa die Hälfte der streng religiösen Juden benutzen zwar das Internet, aber nur mit Filtern gegen Pornografie und andere unerwünschte Inhalte.

Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind stark reglementiert, enger Kontakt ist nur zwischen Verheirateten oder Familienangehörigen erlaubt. Tiefreligiöse Juden heiraten früh, oft schon mit 18 oder 19 Jahren.

In öffentlichen Verkehrsmitteln ultraorthodoxer Wohnviertel halten die Fahrgäste sich meist an eine klare Geschlechtertrennung: Männer sitzen vorn, Frauen hinten. Anfeindungen gegen Frauen, die sich dagegen auflehnen, haben in Israel zuletzt für Schlagzeilen gesorgt.

Am Rande des engen Viertels hängen Schilder, auf denen Frauen gebeten werden, nicht in „unzüchtiger“ Kleidung durch die Straßen Mea Schearims zu laufen. „Stören Sie nicht die Heiligkeit unseres Viertels“, heißt es auf einem — mit genauen Anweisungen: „Geschlossene Bluse, lange Ärmel, langer Rock — keine Hosen, keine eng anliegende Kleidung.“

Manche Ultraorthodoxe nehmen die Regeln so ernst, dass sie Frauen angreifen, wenn diese nach ihrem Geschmack zu leicht bekleidet sind — wie in Beit Schemesch in der Nähe von Jerusalem passiert. Zuvor hatte schon der Angriff auf ein Schulmädchen für Empörung gesorgt. Ein ultraorthodoxer Mann hatte es bespuckt, weil es nach seiner Meinung nicht sittsam gekleidet war.

„Eine Frau sollte für ihren Ehemann oder Bräutigam attraktiv sein, aber keine fremden Männer anziehen“, erklärt Rabbi Hurwitz. „Wir haben deshalb eine besonders niedrige Scheidungsrate.“ Er lehnt es jedoch strikt ab, diese Prinzipien mit Gewalt durchzusetzen, und beschreibt die Übergriffe als Taten einer Randgruppe: „Das ist nicht unser Weg.“ Für ihn ist „Liebe deinen Nächsten“ das wichtigste Gebot.

Die auch Haredim (Gottesfürchtige) genannten tiefreligiösen Juden sind eine schnell wachsende Bevölkerungsgruppe. Gegenwärtig machen sie etwa acht Prozent der 7,8 Millionen Israelis aus. 35 Prozent der Einwohner Jerusalems sind nach Angaben des Jerusalem-Instituts Haredim. Nach einer neuen Studie wird die Zahl der Ultraorthodoxen innerhalb von zehn Jahren voraussichtlich auf eine Million ansteigen. Sie hätte sich damit seit 1999 verdoppelt.

Viele Israelis sehen diese Entwicklungen als gravierendes gesellschaftliches Problem, unter anderem, weil nur gut die Hälfte der ultraorthodoxen Männer arbeitet. Der Rest widmet sein Leben vor allem dem Tora-Studium. Ihre kinderreichen Familien sind oft bitterarm. Die Frauen müssen nicht nur die Kinder versorgen, sondern gehen häufig auch arbeiten. Sechs von zehn streng religiösen Frauen üben einen Beruf aus — mehr als die Männer.

Immer wieder kommt es zu Reibungen zwischen der tiefreligiösen Lebensweise und der säkularen Gesellschaft. Für Verbitterung sorgt bei nichtreligiösen Israelis etwa die Tatsache, dass die meisten ultraorthodoxen Männer keinen Militärdienst leisten.

Ultraorthodoxe Juden kleiden sich ähnlich. Es gibt jedoch zahlreiche verschiedene Strömungen. Die beiden wichtigsten sind die aus verschiedenen Ländern Osteuropas stammenden Chassidim (die Frommen) sowie die Mitnagdim, deren Wurzeln allein in Litauen liegen. Während die Chassidim eher auf eine emotionale Nähe zu Gott und freudiges Gebet Wert legen, konzentrieren die Mitnagdim sich auf nüchterne, intellektuelle Tora-Studien.

Zu den beiden aschkenasischen (aus Europa stammenden) Strömungen kommen die religiösen Juden, die aus arabischen Ländern eingewandert sind. Etwa 800 000 sephardische Juden sind von dort nach Israel gekommen, knapp ein Drittel der Ultraorthodoxen sind sephardischer Abstammung.

Manche Israelis hegen einen regelrechten Hass auf die ultraorthodoxen Juden, weil sie das Gefühl haben, sie wollten ihnen ihre Lebensweise aufzwingen. Jonathan Rosenblum, ein ultraorthodoxer Rabbiner und Rechtsanwalt, glaubt, dass Haredim heute in Israel vielen als negative Projektionsfläche und Sündenbock dienen.

Der Rabbiner wehrt sich gegen die weit verbreitete Sicht, die Ultraorthodoxen seien eine monolithische Gruppe, in der alle gleich denken: Die tiefreligiöse Welt bestehe aus vielen kleinen Untergruppierungen, betont er.

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