Prozess "Ich werde sterben" - Niederländer schildert Todeskampf auf Loveparade

Im Prozess um die Loveparade-Katastrophe hat der erste ausländische Zeuge ausgesagt. Der 29-jährige Niederländer verlor bei dem Unglück einen guten Freund. Er selbst überlebte - und ist auf die Polizei nicht gut zu sprechen.

Tausende Raver drängen sich auf der Loveparade in und vor dem Tunnel in Duisburg , in dem sich eine Massenpanik ereignet hat. Archivbild.

Tausende Raver drängen sich auf der Loveparade in und vor dem Tunnel in Duisburg , in dem sich eine Massenpanik ereignet hat. Archivbild.

Foto: Erik Wiffers

Düsseldorf. Als er dachte, dass auch er jetzt stirbt, als er keine Kraft mehr hatte, sich nicht länger gegen das Gewicht der Körper über ihm stemmen konnte, deren Gliedmaßen ihm die Luft abdrückten, als alles beißen und drücken nicht mehr half, da hörte er diese Melodie: „Sweet Dreams“ von den Eurythmics - in einer Techno-Version. Dann habe er plötzlich Schuhe gesehen, sei mit Wasser bespritzt worden und jemand habe versucht, ihn aus dem Stapel von Körpern zu ziehen.

Es ist absolut still im großen Saal des Düsseldorfer Kongresszentrums. Der 29-jährige Niederländer aus Zwolle berichtet am Dienstag im Loveparade-Prozess als erster ausländischer Zeuge so beklemmend von seinen eineinhalb Stunden Überlebenskampf, dass sogar seine Dolmetscherin unterbrechen muss, schluchzt und mit den Tränen kämpft. Dabei hatte alles so gut angefangen, als er mit seinem Freund Jan-Willem an jenem Samstag mit dem Auto nach Duisburg fuhr. Sie freuten sich auf das Spektakel, das Wetter war prächtig, die Leute tanzten auf Dächern.

Doch dann sei es auf dem Weg zum Loveparade-Gelände voller und voller geworden. Schon vor der Schleuse, die dem Tunnel zum Gelände vorgeschaltet war, staute sich eine enorme Menschenmenge. Als ein Rettungswagen durchgelassen werden musste, sei er mit seinem Freund endlich in den Tunnel gelangt. Doch schon kurz nachdem er auf die berüchtigte Rampe abgebogen war, ging nichts mehr. Die Menschenmenge habe ihn in Wellen nach rechts und links geschoben. Er habe den Boden unter den Füßen verloren, sei langsam nach hinten und zu Boden gedrückt worden. Das habe mehrere Minuten gedauert. Er habe es nicht verhindern können. Von den seitlichen Mauern der Rampe hätten Polizisten tatenlos auf sie herabgeschaut.„Die Leute haben verzweifelt geschrien und die haben nur zugesehen und gewunken.“

Dann habe er plötzlich seinen Freund Jan-Willem wiedergesehen. Er habe direkt links neben ihm auf dem Boden gelegen. Sein vorher hochrotes Gesicht sei blau angelaufen gewesen, die Augen quollen hervor. „Ich habe mehrmals an seinem Hals nach dem Puls gefühlt, aber da war keiner.“ Auch der junge Mann rechts von ihm, ein Deutscher namens Ingo, habe irgendwann gesagt: „Ich werde sterben.“ „Wirst du nicht“, habe er ihm gesagt. Aber kurz darauf habe er auch ihn für tot gehalten. Er selbst habe vor Schmerz geschrien, in die Gliedmaße gebissen, die ihn zu ersticken drohten, scheinbar alles vergebens.

„Da kommt keine Hilfe mehr“, habe er irgendwann gedacht. „Die ganze Zeit sah ich den toten Jan-Willem da liegen, habe an seine Familie gedacht.“ Zwei Feuerwehrleute hätten ihn schließlich geborgen. Er habe vor den Leichen gestanden, hyperventiliert und schließlich angefangen zu weinen. Als er nachschauen wollte, ob sein Freund vielleicht doch noch wiederbelebt werden konnte, habe ihn die Polizei zurückgehalten: „Jetzt konnten sie plötzlich doch etwas machen.“ Der Deutsche neben ihm, Ingo, habe mit gebrochenem Bein überlebt. Er habe noch ein T-Shirt darum gewickelt, was wohl sinnlos gewesen sei.

Auf einer Polizeistation hätten die Beamten dann herumgewitzelt und sich über sein schlechtes Deutsch lustig gemacht. „Ich fand das ziemlich unangemessen“, sagte der Niederländer. Nach seiner Zeugenaussage bei der Polizei habe er mit der Mutter Jan-Willems zum zweiten Mal telefoniert und ihr da gesagt, was er beim ersten Mal nicht fertig gebracht hatte: „Das schlimmste Telefonat meines Lebens“. Sie habe geschrien, er habe gehört, wie ihr das Telefon aus der Hand gefallen sei.

15 Ärzte, Psychologen und Psychiater habe er seitdem konsultiert. Er leide unter Depressionen: „Bis zum heutigen Tage habe ich jeden Tag damit zu tun. Die Flashbacks sind nie weggegangen. Aber inzwischen sehe ich sein Gesicht nicht mehr, wenn er in meinen Träumen zurückkommt.“ Er sei arbeitslos, krank geschrieben.

Beim Loveparade-Unglück am 24. Juli 2010 in Duisburg waren 21 Menschen erdrückt und mindestens 652 verletzt worden. Unter den Toten waren ein Niederländer und eine Australierin. Der Prozess des Landgerichts Duisburg gegen sechs Mitarbeiter der Stadt Duisburg und vier Beschäftigte des Veranstalters Lopavent hatte im Dezember begonnen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen fahrlässige Tötung vor. Aus Platzgründen findet der Prozess in Düsseldorf statt.

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