Leben an der Abbruchkante

Nach der Katastrophe in Nachterstedt ist der geplante „Indesche Ozean“ wieder umstritten.

Inden. Die Gesichtszüge von Josef Bellartz sind wie eingefroren, während er von der Böschung herab in das riesige Tagebauloch blickt. Da, wo früher die Kirche der Ortschaft Inden stand, gräbt ein riesiger Bagger seine Metallschaufeln wie Zähne in das Braunkohleflöz. Meter für Meter, immer weiter. Einige Momente betrachtet Bellartz stumm das Geschehen, dann wendet er seinen Blick ab. "Es ist schon beängstigend, wie schnell der Tagebau sich vorwärts frisst."

Hier, im Westen des rheinischen Braunkohlereviers, baut der Energiekonzern RWE im Tagebau Inden seit Jahrzehnten Braunkohle ab, um diese zur Stromgewinnung im nahen Kraftwerk Weisweiler zu verbrennen. Im Jahr 2030 soll der Tagebau ausgekohlt sein. Eine Nachfolgenutzung steht schon fest: Das Restloch soll über einen Zeitraum von 30 Jahren mit Wasser befüllt werden. Der künstliche See, halb spöttisch auch als "Indescher Ozean" tituliert, wäre mit einer Fläche von elf Quadratkilometern der bis dahin Größte in ganz NRW.

Das Genehmigungsverfahren ist bereits abgeschlossen, nur die Unterschrift von Wirtschaftsministerin Christa Thoben (CDU) fehlt noch. Doch seit einer Woche hat sich vieles verändert. Seit der Katastrophe von Nachterstedt steht die Frage im Raum: Ist ein solcher See noch verantwortbar?

Josef Bellartz ist seit vielen Jahren Gegner des Sees. Der Landwirt lebt in der Ortschaft Merken, am Südrand des geplanten Sees. Dem Tagebau muss er einen Großteil seines Ackerlandes opfern, Ausgleichsflächen gibt es in 20 Kilometern Entfernung. Der 61-Jährige ist Sprecher der Bürgerinitiative gegen den See. Eigentlich hatte er resigniert, die Zahl der Seebefürworter war zu groß. Doch seit Nachterstedt sieht Bellartz die Chance, wieder gehört zu werden. "Die Abbruchkante soll bis 300 Meter an den Ort heran reichen. Wer garantiert, dass die Ufer halten?" Belege für seine Sorge hat er nicht, dafür ein beklemmendes Gefühl.

Die politisch Verantwortlichen haben möglicherweise ein Eigentor geschossen: Obwohl der Braunkohlenausschuss als Fachgremium schon im Dezember grünes Licht für den See gegeben hatte, wurde die offizielle Genehmigung auf den September verschoben. Der Kommunalwahlkampf sollte nicht belastet werden. Doch die Katastrophe von Nachterstedt stärkt jetzt die Position der Seegegner. Sprachrohr der Kritiker ist Paul Larue (CDU), Bürgermeister der Stadt Düren, zu der Merken gehört. "Wir hatten schon immer Zweifel an der Beherrschbarkeit solcher künstlicher Seen. Die sind jetzt noch deutlicher geworden."

Larue ist grundsätzlich gegen den See. Merken werde durch den See abgeschnitten, eine Erdverfüllung böte zudem wesentlich mehr Möglichkeiten: Landwirtschaft, Gewerbe, Wohnbebauung. "Das ist alles auf dem Wasser nicht möglich." Die Vorwürfe, sein Vorstoß sei ein reines Politmanöver vor der Kommunalwahl, weist Larue von sich: "Wir sind keine Trittbrettfahrer der Katastrophe. Niemand wünscht sich ein solches Unglück. Es wäre zynisch, so zu argumentieren." Doch selbst wenn sich seine Befürchtungen als unbegründet erweisen sollten, will er weiter gegen den Indensee Front machen.

Dafür hat Josef Wirtz kein Verständnis. Der CDU-Landtagsabgeordnete, von Beruf Landwirt wie Josef Bellartz, wohnt selbst am Rand des Tagebaus - in Schophoven, am östlichen Ufer eines möglichen Sees. Luftlinie trennen Bellartz und ihn keine vier Kilometer, in der Sache jedoch Welten. Wirtz ist für den See, der große Entwicklungspotenziale für die Gemeinde Inden biete. Arbeitsplätze sollen geschaffen werden, der Tourismus die Region ankurbeln. Wirtz: "Mit den Sorgen der Menschen zu spielen, ist unverantwortlich. Es gibt keine Beweise, dass sich eine Tragödie wie in Nachterstedt auch hier ereignen könnte."

Indens Bürgermeister Ulrich Schuster verweist darauf, dass "aufgekippte Böden mit nicht bekannten Tunneln anders reagieren als gewachsene Böschungen wie bei uns." Dennoch sei klar: "Wenn sich dort etwas für unser Revier ergeben sollte, wird man darauf reagieren. Das ist aber kein Grund, jetzt die Bagger anzuhalten." Doch um die Sorgen der Bevölkerung auszuräumen, hat Wirtz die Wirtschaftsministerin schriftlich gebeten, "für eine lückenlose Überprüfung der Lage durch den geologischen Dienst zu sorgen".

Längst nicht alle Seebefürworter betrachten die Situation so nüchtern. Matthias Hahn, der in Schophoven wohnende Transportunternehmer und Vorsitzende des Fußballvereins, gerät angesichts der Forderungen aus Düren in Rage: "Wer wie Herr Larue keine 48 Stunden nach einer Katastrophe in der Öffentlichkeit den Weltuntergang beschwört, handelt mutwillig. Außerdem weiß ich nicht, ob ein Bürgermeister in der Lage ist, die Situation überhaupt zu beurteilen." Für ihn steht fest: "Der See birgt ein großes Potenzial. Wasser ist Leben. Das kann man doch nicht mit den Wildwesttagebauen im Osten vergleichen."

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