Interview Künast zur Foltersekte Colonia Dignidad: „Deutschland hat einfach weggesehen“

Die Aufarbeitung der Verbrechen in der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile soll endlich angepackt werden. Wir sprachen mit Renate Künast, der Vorsitzenden des Rechtsausschusses (mit Video).

Berlin/Krefeld. Folter, Mord, Elektroschocks, jahrzehntelanger sexueller Missbrauch von Kindern, Erniedrigung, Prügel, Verabreichung von Psychopharmaka, Waffenproduktion — das Gelände der deutschen Sekte Colonia Dignidad (CD) in Chile war ein Ort des Horrors. Mit Billigung und Unterstützung deutscher Politik und Behörden. Jetzt reagiert der Bundestag. CDU, SPD und Grüne haben die rückhaltlose Aufklärung der Verbrechen und Opferhilfe beantragt. Auf Initiative von Renate Künast, Vorsitzende des Rechtsausschusses. Im Interview mit unserer Zeitung spricht die Grüne über eine Kultur des Wegsehens, geheime Machenschaften, die CSU und das Krefelder Landgericht.

Interview: Künast zur Foltersekte Colonia Dignidad: „Deutschland hat einfach weggesehen“
Foto: Jochmann

Frau Künast, seit der Gründung der Colonia Dignidad durch den pädophilen Wanderprediger Paul Schäfer sind 55 Jahre vergangen. Wie kann es sein, dass sich Deutschland erst jetzt der Verantwortung für die Opfer stellt?

Interview: Künast zur Foltersekte Colonia Dignidad: „Deutschland hat einfach weggesehen“
Foto: dpa/abi

Künast: Das frage ich mich auch. Es gab immer wieder Einzelne wie Hans-Christian Ströbele (Grüne), Jan Korte (Linke) oder Michael Brandt (CDU), Klaus Barthel (SPD), die diese Mauer des Schweigens und Wegdrückens zu durchdringen versuchten, sich aber am Ende nicht durchsetzen konnten. Als gäbe es geheime Machenschaften, die nicht aufklären wollten. Ich stehe da zum Teil fassungslos vor und habe keine Erklärung.

Brauchte es dafür erst einen Hollywoodfilm über die Schreckens-Kolonie?

Künast: Es war wie ein Zufall, der göttlich vom Himmel fiel. Beim Besuch Gaucks in der chilenischen Botschaft kam es zum Affront, weil einer der ehemaligen Täter zugegen war. Gauck ging vom Empfang weg. Wir entschieden anschließend, uns intensiv mit Fragen von Menschenrechten in Chile und Argentinien zu beschäftigen.

Sie sind daraufhin mit einer überfraktionellen Delegation nach Chile gereist. So einfach geht das dann?

Künast: Überhaupt nicht. Und glauben Sie nicht, dass wir darin groß unterstützt wurden. Im Gegenteil, auch das Auswärtige Amt hat betont, wie schwierig eine Reise zur ehemaligen Colonia Dignidad sei und uns zugeraten, lieber Einzel-Treffen mit Betroffenen zu arrangieren. Das war wie eine wundersame, weiche Mauer. Es geht ja auch darum, dass sich Behörden und Politik mit ihrer eigenen Vergangenheit und Mitschuld auseinandersetzen müssen.

Wen meinen Sie konkret?

Künast: Nun, das Auswärtige Amt hat das Treiben der Sekte damals ganz offensichtlich nicht unterbunden, in der deutschen Botschaft in Santiago wurden Mitarbeiter, die kritische Fragen stellten, unter Druck gesetzt, einzelne Flüchtlinge aus der CD sogar zurückgeschickt, der ehemalige SS-Offizier Mertins und Waffenhändler ging in der Kolonie ein und aus, und die CSU hatte offensichtlich Kontakte.

Stichwort CSU: Die Sektenführung der CD hatte seinerzeit schon ein Fest mit deutschem Liedgut für den Besuch von Franz-Josef Strauß vorbereitet, Bayerns Flagge war gehisst, Strauß sagte in letzter Sekunde ab. Ist das ein Grund, warum der aktuelle Antrag erst nach zähem Ringen zustande kam?

Künast: Es gab bereits 2002 einen ähnlichen Antrag, bei dem die Union nicht zustimmte. Für mich war es diesmal elementar, dass der Antrag auch von der Partei mitgetragen wird, die sich über die Aufarbeitung ihrer Geschichte am meisten Sorgen machen muss. Und dass sie den Prozess nach der Wahl nicht wieder blockieren kann. Deshalb habe ich an mancher Stelle nicht weiter nachgebohrt.

Trotzdem, was uns in dem Antrag fehlt, ist eine klare Formulierung dazu, dass die Rollen der eigenen Parteien in diesem Skandal aufgearbeitet werden sollen.

Künast: Da waren wir aber ganz klug, denn es gibt keine Begrenzungen und die Aufklärung bezieht damit auch die Parteien ein. Das gehört für mich dazu. Man kann darüber streiten. Für mich war der Beschluss wichtig und ich weiß, dass die Arbeit jetzt erst richtig beginnt.

Ist dieser Antrag wegen zu vieler Kompromisse ein „Antrag light“?

Künast: Da sind Sie auf dem falschen Dampfer.

Inwiefern?

Künast: Wenn Sie eine Mauer vor sich haben und wollen auf die andere Seite, müssen Sie eine Tür entwickeln, die sich öffnet. Wir haben jetzt einen Beschluss, an den vor einem Dreivierteljahr noch niemand geglaubt hätte. Dieser Beschluss ist der Hammer und ich bin stolz auf ihn.

Sie sprechen von einer Kultur des Wegsehens. Ein deutsches Problem?

Künast: Es gab offenbar bis Mitte der 70er Jahre, so als Erbe der Weimarer Republik und der Nazi-Zeit, die allgemeine Einstellung, dass man Kinder ruhig verprügeln kann. Dass man mit ihnen machen kann, was man will. Schauen Sie auf die Gewalt in Heimen oder den sexuellen Missbrauch in der Kirche. Auf deutschem Boden.

In Chile leben heute noch etwa 100 Menschen auf dem Gelände, dass als Villa Baviera eine Art Feriendorf darstellen soll. Viele wurden dort geboren oder als Kinder dorthin verschleppt. Welchen Eindruck machen diese Menschen auf sie?

Künast: Sie sind hospitalisiert, wurden als Kinder mindestens mit Psychopharmaka oder Elektroschocks misshandelt, haben große Probleme. Und es gibt zwei unterschiedliche Gruppen. Die einen werfen den anderen vor, sich von der Ideologie nicht verabschiedet zu haben oder zu wissen, wo die immensen Gelder der Sekte liegen. Und dann gibt es noch die Gruppe chilenischer Opfer. Wir haben viel Arbeit vor uns.

In Ihrem Antrag geht es vor allem um Opferhilfe. Gibt es Hilfe auch für Täter?

Künast: Natürlich werden wir nicht die Führungsclique unterstützen. Aber Menschen, die dort geboren wurden, es nicht anders kennengelernt haben und in der Kolonie später selbst zu Tätern wurden, denen müssen wir helfen. Sie bekommen vom chilenischen Staat 100 Euro Rente, brauchen vielleicht Pflege oder Therapie oder haben selbst Kinder, deren Bildung unterstützt werden muss. Denen keine Grundsicherung zu gewährleisten, widerspricht unserem Rechtsstaat. Jedem hier verurteilten Täter steht das auch zu. Aber die genauen Regelungen wird eine Kommission treffen.

Sektenarzt Hartmut Hopp wurde in Chile zu fünf Jahren Haft verurteilt und kann in Krefeld jeden Dienstag auf dem Markt unbehelligt sein Obst kaufen. Das Landgericht Krefeld hat immer noch nicht entschieden, ob es das Urteil vollstrecken will. Was ist da los?

Künast: Ich verstehe das absolut nicht, habe bereits letztes Jahr in der Justizverwaltung nachgefragt. Zur Überzeugung der Menschen gehört, dass Recht gilt und dass der Rechtsstaat reagiert. Ich weiß nicht, ob am Landgericht Krefeld das Gefühl vorherrscht, diese Taten seien in einem anderen Universum geschehen. Wie kann hier einer mit dieser Geschichte sechs Jahre lang leben, ohne dass eine Entscheidung getroffen wird? Ein Gericht muss sich fragen, ob es glaubwürdig das Verfahren gegen Kindesmisshandlung führen kann, ohne dabei Rot zu werden, wenn dieses Verfahren nicht zu einer Entscheidung kommt.

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