Islamisten in Nigeria: Blutiges Symptom eines kranken Landes

Der nigerianische Bischof Matthew Kukah fürchtet um die Stabilität seiner Heimat. Islamisten versetzen den Staat ins Wanken.

Bonn. Im August wird Matthew Kukah seinen 60. Geburtstag feiern. Erlebt hat der Mann aus Nigeria in den Jahren mehr als manch ein Mensch verkraften kann. Blutige Konflikte haben sein gesamtes Leben begleitet. Der schlimmste von ihnen war der Biafra-Krieg, der 1967 — neun Jahre vor Kukahs Preisterweihe — in seinem Heimatland begann. Rund eine Million Menschen ließen in dem Sezessionskrieg ihr Leben. Ein Trauma für das ganze Land — bis heute.

Dennoch folgten weitere Kämpfe in dem größten afrikanischen Staat. Kämpfe um die üppigen Ölreserven und politische Macht. Auseinandersetzungen zwischen ethnischen Gruppen, um wirtschaftliche Interessen oder Korruption. „In Nigeria ist die Lage immer sehr kompliziert. Es ist ein komplexes und dynamisches Land“, sagt der Bischof von Sokoto. Seine Diözese erstreckt sich über vier Bundesstaaten im Norden des Landes, in denen hauptsächlich Muslime leben.

Eine Region, die in den vergangenen Monaten immer wieder von blutigen Anschlägen erschüttert wurde, die der islamistischen Terrorsekte Boko Haram zugeordnet werden. Auch Kirchen werden immer wieder zu Zielen der Terroristen. Viele westliche Medien, so beobachtet der Bischof, versuchen aus dieser Tatsache eine religiöse Konfrontation zu lesen. Zu vereinfacht ist Matthew Kukah diese Interpretation. Auch er macht sich Sorgen um den Zusammenhalt des Landes, aber: „Es ist meine Überzeugung, dass wir keinen Konflikt zwischen Muslimen und Christen haben.“

Ziel der Gruppe ist seiner Meinung nach der Staat selbst. Mit Angriffen auf katholische Kirchen versuche die Gruppe Aufmerksamkeit zu erzeugen. „Wenn man eine katholische Kirche angreift, kriegt man den Papst dazu, sich zu äußern.“ Somit verhallen die Explosionen nicht nur in der Region, sondern finden weit über die Landesgrenzen hinaus Beachtung. Deshalb sollte nach Meinung des Bischofs bei den Opfern nicht nach ihrer Religion unterschieden werden. „Oft sind die Opfer zufällige Passanten, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren.“

Überhaupt scheint das, was Boko Haram will oder ist, ziemlich undurchsichtig. Weitestgehend ist unklar, wer sich dahinter verbirgt. Klar hingegen ist, dass es der Sekte gelungen ist, das Land mit ihren Sprengsätzen, die bislang Hunderte Menschen das Leben gekostet haben, zu erschüttern. In Boko Haram, die der Präsident Nigerias als „gesichtslos“ bezeichnet, sieht Matthew Kukah so etwas wie einen Schirm, der etliche Kritikpunkte an den Missständen in dem Staat mit rund 150 Millionen Einwohnern und etwa 350 ethnischen Gruppen unter sich vereint.

Nährboden für die Aktionen der Attentäter ist vor allem die in Nigeria vorherrschende Korruption. In einem Essay schreibt Kukah: „Dieser Staat ist die Domäne von Schurken, Dieben und offensichtlichen Banditen geblieben, die beständig das Vermögen des Staates geplündert haben und die — in Kollaboration mit multinationalen Ölgesellschaften und mit eng vernetzten ausländischen Baufirmen — auch weiterhin die Ressourcen der Nation weggeben.“

Der jüngste Terror „ist nur das Symptom eines ohnehin kranken Landes“, ist der Kirchenmann überzeugt. Doch um die Krankheit — oder zumindest das Symptom Boko Haram — zu behandeln, fehle es noch an der richtigen Diagnose.

Derzeit versucht die Regierung, das richtige Medikament zu finden. Folgenschwer aus der Sicht von Matthew Kukah: Das aufkeimende Problem wurde zu lange ignoriert. Jetzt, da die Gruppierung offensichtlich besser organisiert und mit Waffen ausgestattet ist, droht sie einen Flächenbrand im Land zu entfachen. Um Nigeria vor einer erneuten blutigen Zerreißprobe wie 1967 zu schützen, ist das Land auf Solidarität aus dem Westen angewiesen, davon ist der Bischof überzeugt.

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