Herr, gib uns unser Schalke

In der Kapelle der Veltins-Arena ist Fußball-Wahnsinn greifbar wie nirgendwo sonst.

Gelsenkirchen. Wer Gott nahe sein will, muss tief hinein in den Bauch der Veltins-Arena, dem Stadion des Fußball-Bundesligisten FC Schalke 04. Zunächst muss man das Foyer für die Logen-Gäste passieren: eine sterile Halle, die wie ein Zwitter aus Flughafen-Terminal und Einkaufszentrum wirkt. Dann führt eine Rolltreppe hinab in die Mixed-Zone, jenen Trakt, in dem die Fußball-Profis nach dem Spiel auf die Journalisten treffen und abgehackte Sätze ins Mikrofon stammeln. Dort befindet sich etwas abseits eine gläserne Tür mit der Nummer 1011.

Dahinter verbirgt sich ein Raum, dessen Existenz bei Menschen, die kein Verständnis für den Fußball und dessen spirituelle Dimension haben, ein abschätziges Kopfschütteln auslöst: die Stadionkapelle.

Religion ist derzeit ein großes Thema in Gelsenkirchen: Muslime werfen dem Verein vor, in einer parodistischen Textzeile der Vereinshymne "Blau und Weiß wie lieb ich" den Propheten Mohammed herabzuwürdigen. In der Stadionkapelle geht es um anderes. Dort wird gefeiert: Schalke-Fans pilgern an diesen Ort, um ihrer Liebe zum Verein göttliche Absolution erteilen zu lassen.

Das Gotteshaus des FC Schalke 04 ist in grelles Licht getaucht. Die Kapelle, darauf legt der protestantische Stadionpfarrer Norbert Filthaus Wert, ist "eine echte Kirche". Filthaus, ein hemdsärmeliger 60-Jähriger in Cordhosen, fällt dieses Urteil mit einer Spur Stolz in der Stimme, und so ganz Unrecht hat er ja auch nicht. Wichtige Merkmale einer Kirche sind schließlich erfüllt. In der Mitte steht ein schlichter Altar. Daneben ist ein Tisch mit einer Schüssel aufgestellt - das Taufbecken. Dort sind seit der Einweihung der Kapelle im August 2001 etwa 700 Babys getauft worden. Die einen protestantisch, die anderen katholisch - es handelt sich um eine ökumenische Stadionkapelle. All diese Kinder wurden von Eltern gezeugt, für die ein Leben ohne Schalke 04 so trostlos wäre wie ein Sommer ohne Sonne.

Doch im kargen Interieur weist nichts auf die Tatsache hin, dass dieser Ort in geistiger Hinsicht nicht nur Gott, sondern auch einem Fußballklub verpflichtet ist. Keine blau-weißen Fresken, kein Stan Libuda als Madonnenfigur. Erst wenn Pfarrer Filthaus Geschichten von den Gottesdiensten erzählt, die er gehalten hat - das waren in erster Linie Taufen und Hochzeiten - wird der Schalke-Wahnsinn greifbar. Filthaus erinnert sich an vergangene Woche, als der kleine Elias-Joyce getauft wurde, selbstverständlich im Schalke-Trikot, und die Familienangehörigen sich einig darin waren, einen unvergesslichen Tag erlebt zu haben. Er erzählt von der Silbernen Hochzeit, die einen gestandenen Betriebsleiter aus Bielefeld, zugleich obsessiver Schalke-Fan, Tränen über die Wangen hat kullern lassen. Seine Ehefrau hatte ihm vor der Hinfahrt die Augen verbunden, und erst als der Mann vor den Altar trat, wurde er von dem Sichtschutz erlöst. Bei der Nachricht, dass er sichnun der Stadionkapelle des FC Schalke befinde, entlud sich die ganze Anspannung in diesem heftigen Gefühlsausbruch.

Tatsächlich ist Schalke das emotionale Epizentrum der Ersatzreligion Fußball. Selbst die große Leidenschaft, die unter den Anhängern von Traditionsklubs wie Borussia Mönchengladbach, oder dem 1. FC Köln grassiert, verblasst gegen diesen Hort der Fußballverrücktheit. Die Zuneigung geht so weit, dass der Verein im Leben mancher Fans eine existenzielle Rolle einnimmt, Halt und Orientierun denn auch g gibt. Norbert Filthaus bestätigt: "Für viele Menschen, besonders diejenigen, die aus Gelsenkirchen selbst kommen, ist Schalke eine wichtige Stütze."

Für Filthaus, den gläubigen Christen, ergibt sich daraus eine paradoxe Situation: Einerseits protegiert er mit seiner Tätigkeit als Stadionpfarrer diesen - um in der Sprache der Kirche zu sprechen - "heidnischen Kult". Andererseits widerspricht dieser Kult seiner theologischen Mission: Schließlich will Filthaus die Botschaften Christi erklären, allein sie als glückselig machenden Glauben verkünden. Darauf angesprochen, blickt Filthaus, seit 2001 im Besitz einer Schalke-Dauerkarte, ernst drein und gesteht: "Fußball hat etwas Religiöses." Schiebt dann aber nach, dass Fußball "nicht alles im Leben sein kann". Soll heißen: Letztlich kann der Sport nicht in Konkurrenz zur Religion treten. Aber was soll er, der Pfarrer, auch anderes sagen?

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