Fall Niklas P.: Die Ermittlungen laufen ins Leere

Ein Angeklagter wird freigesprochen, die wiederaufgenommenen Ermittlungen laufen ins Leere. Und in Aachen lebt die Großmutter, die keine Ruhe finden kann.

Fall Niklas P.: Die Ermittlungen laufen ins Leere
Foto: dpa

Bonn/Aachen. Der Ort, an dem Niklas ins Koma fiel, aus dem er nie wieder erwachte, beantwortet keine Fragen. Ein kleiner grauer Platz hinter dem Bahnhof in der Mitte von Bad Godesberg, eine Unterführung, eine Trinkhalle. Seit dem Tag nach der Tat, seit dem 7. Mai 2016, stehen auf der Ummauerung eines Baumes Kerzen, Kreuze, Fotos von Niklas als Kind, als Jugendlicher, mit seiner Freundin. Ein unauffälliger Ort, der zu Niklas‘ Gedenkstätte geworden ist. An einem Tag in diesem Sommer steht seine Großmutter dort und stellt drei elektrische Grablichter auf. Damit das Gedenken an Niklas nicht erlischt.

Der Fall Niklas P. ist so gut wie abgeschlossen, jedenfalls juristisch. Ein Angeklagter wurde in einem langen und aufsehenerregenden Prozess im Mai 2017 freigesprochen, die Richter des Bonner Landgerichts hatten Zweifel daran, dass der 21 Jahre alte Walid S. tatsächlich der Täter war. Vor dem Gericht haben Zeugen ausgesagt, die mit großer Sicherheit wissen, wer es war, der Niklas am Abend des 6. Mai hinter dem Bad Godesberger Bahnhof angriff. Doch keiner dieser Zeugen sagte dem Gericht, was damals wirklich geschah, alle beriefen sich auf Gedächtnislücken. Der Staatsanwalt sprach, der Verzweiflung einigermaßen nahe, von einem Schweigekartell.

Kurz nach dem Ende des Prozesses setzte sich Niklas‘ Großmutter in ihrer Wohnung in Aachen an den Schreibtisch und schrieb einen Brief, den sie an unsere Zeitung schickte. Sie schrieb von ihrem Schmerz über den Verlust des Enkels, von dem fortgesetzten Schmerz darüber, dass der Täter bis heute nicht gefunden ist. Sie schrieb von den Zeugen, die die Wahrheitsfindung verhinderten, sie schrieb von den Ermittlern, die so viele Ermittlungsansätze nicht konsequent verfolgt hätten. Ihr Brief war Hilferuf und Anklage zugleich. Niklas‘ Großmutter heißt Waltraud P.

Noch im Prozess gegen Walid S. hat die Bonner Staatsanwaltschaft angekündigt, dass sie die Ermittlungen im Fall Niklas wieder aufnehmen werde, und diese Ankündigung ist Waltraud P.s Hoffnung. Wer verstehen will, warum sich diese Hoffnung kaum erfüllen wird, warum die weiteren Ermittlungen der Staatsanwaltschaft sehr wahrscheinlich keinen neuen Verdacht gegen irgendjemanden erhärten werden, der muss die Fakten des Falles kennen, die in der zum Teil aufgeregten Berichterstattung etwas untergegangen sind. Auch der Wikipedia-Eintrag zu dem Fall ist ungenau, lückenhaft und stellenweise einfach falsch.

Am Abend des 6. Mai 2016 kam Niklas mit seiner Schwester und vier Freunden von einem Konzert, vom Bahnhof in Bonn-Bad Godesberg aus wollten sie nach Hause fahren. Hinter dem Bahnhof trafen sie auf eine Gruppe Jugendlicher. Es kam zu einem Wortwechsel, ein bis heute unbekannter Jugendlicher schlug Niklas mit der Faust gegen den Kopf. Niklas stürzte und fiel ins Koma.

Ein Zeuge sagte aus, er habe gesehen, dass der Täter den auf dem Boden liegenden Niklas gegen den Kopf getreten habe, doch die Rechtsmediziner fanden bei der Obduktion nicht den geringsten Hinweis darauf, dass dies tatsächlich so gewesen ist. Keine Verletzung des Schädelknochens, keine Hautabschürfung, kein Hämatom, keine Einblutungen unterhalb der obersten Hautschicht. Sehr wahrscheinlich war also der Schlag gegen Niklas‘ Kopf das einzige, was man dem Täter in juristischer Hinsicht vorwerfen kann.

Was die Rechtsmediziner während der Obduktion aber feststellten, war eine Vorschädigung von Niklas‘ Venen, die entweder genetisch bedingt war oder auf eine zuvor nicht festgestellte Krankheit zurückging. Ohne diese Vorschädigung würde Niklas sehr wahrscheinlich noch leben, er starb sechs Tage nach dem Angriff hinter dem Bad Godesberger Bahnhof in einem Krankenhaus.

Um zu verdeutlichen, was dieser Vorschädigung bei Niklas‘ Tod für eine Bedeutung zukam, erklärte der Rechtsmediziner vor Gericht dies: Hätte Niklas Fußball gespielt, und hätte er eine scharf geschlagene Flanke mit dem Kopf angenommen, hätte er theoretisch auf die gleiche Weise sterben können wie durch den Schlag gegen den Kopf. Ein plastisches Beispiel, das zeigt, dass Niklas‘ Tod in erster Linie wohl ein Unglücksfall war, so bitter diese Erkenntnis für die Hinterbliebenen auch ist.

Diese nüchterne, vielleicht ernüchternde Bilanz des Falles steht in starkem Kontrast zur öffentlichen Debatte, die nach Niklas‘ Tod entbrannte. Die Stimmung in Bad Godesberg war aufgeheizt, auch über die vielen Flüchtlinge, die im Jahr zuvor nach Deutschland gekommen waren, wurde wieder diskutiert. Denn zur Gruppe, aus der heraus Niklas angegriffen wurde, gehörten auch junge Männer aus Nordafrika.

Der Bad Godesberger Pfarrer Wolfgang Picken gehörte zu denen, die sich schon bald nach der Tatnacht am 6. Mai 2016 äußerten. „Die Hemmschwelle zur Gewaltanwendung sinkt, und die Brutalität wächst. Hier schwelt ein Aggressionspotenzial, das immer unberechenbarer und zur Gefahr für alle Bürger wird“, sagte Picken damals.

In der Bonner Polizeistatistik fand sich kein eindeutiger Beleg für diese auch von anderen geäußerte These, doch Pfarrer Picken sagte damals: „Ich habe schon eine Entwicklung wahrgenommen, dass die Gewalt aggressiver wird.“

Als Ursache nannte Picken die Schere zwischen Arm und Reich, auch in Bad Godesberg. Die Unterschiede seien „fast schon provokativ“, die Kluft sei im Stadtbild zu sehen. Durch Bad Godesberg führt eine Bahnlinie. „Auf der dem Rhein zugewandten Seite sind viele Villen. Und auf der anderen leben andere soziale Schichten.“ Das erzeuge Spannungen. Der Ort, an dem Niklas angegriffen wurde, liegt fast genau in der Mitte von Bad Godesberg.

Picken durfte sich also angesprochen fühlen, als Richter Volker Kunkel vor der Urteilsverkündung im Mai 2017 scharfe Kritik an jenen übte, die aus dem Fall Niklas etwas gemacht hätten, „was er nicht ist“. Kunkel relativierte den Fall, indem er bemerkte, der Angriff auf Niklas sei keineswegs „die brutale Tat“ gewesen, als die sie in der Öffentlichkeit dargestellt wurde. Und nicht zuletzt äußerte er die Vermutung, dass sich ohne den öffentlichen Druck womöglich doch einige Zeugen vor Gericht getraut hätten, die Wahrheit zu sagen. Ungewöhnlich harte Worte.

Dann sprach Richter Kunkel den Angeklagten Walid S. vom Vorwurf frei, Niklas P. in jener Nacht im Mai 2016 geschlagen zu haben. Es sei nicht einmal sicher, sagte Kunkel, dass Walid S. überhaupt am Tatort gewesen sei.

In ihrem Brief an unserer Zeitung hatte Waltraud P. den Verdacht geäußert, die Polizei habe wichtige DNA-Spuren nicht gesichert, zum Beispiel an einer beim freigesprochenen Walid S. gefundenen Jacke. An dieser Jacke, schrieb Waltraud P., seien Blutspuren von Niklas gefunden worden, der Täter müsse sie also während des Angriffs getragen haben.

Anruf bei der Bonner Staatsanwaltschaft, die das Ermittlungsverfahren geleitet hatte. Oberstaatsanwalt Robin Faßbender erklärt, dass die Jacke sehr wohl sichergestellt worden sei, sie ist ein Schlüsselbeweis des Falles. In der Tat habe sich Niklas‘ Blut auf der Jacke befunden, aber auch DNA-Spuren von „mehreren anderen Personen“. Die Spurenauswertung habe ergeben, dass Walid S. nicht „der Hauptträger der Jacke war“. Und es existieren „fünf bis sieben unterschiedliche Aussagen darüber, wer die Jacke wann in der Tatnacht getragen hat“, sagt Oberstaatsanwalt Faßbender. Es gebe keine Spuren, denen die Ermittler nicht nachgegangen seien.

Die erneute Auswertung der Akte, mit der die Staatsanwaltschaft nach dem Freispruch von Walid S. vergangenen Mai begonnen hatte, führte bislang zu keinen neuen Ermittlungsansätzen. Und diejenigen, die helfen könnten, schweigen oder lügen.

Einer der Ermittler, der mit dem Fall befasst war, spricht von einer Gruppe Jugendlicher im Alter zwischen 15 und 21 Jahren, die wüssten, was in der Nacht im Mai 2016 geschah. Alle leben in Bad Godesberg, alle sind polizeibekannt, einige von ihnen waren am Tatort. Zu der Gruppe gehören einige Flüchtlinge aus Nordafrika, aber auch deutsche Jugendliche. Der Ermittler, der seinen Namen in diesem Zusammenhang nicht in der Zeitung lesen möchte, sagt, dass jeder in der Gruppe wisse, wie man die Polizei belügt, er spricht von „empathielosen Frettchen“. Die Wortwahl des ansonsten besonnenen Ermittlers lässt erahnen, wie groß der Frust bei denen ist, die sich seit mehr als einem Jahr bemühen, den Fall zu lösen.

Und auch Oberstaatsanwalt Faßbender sagt: „Wir haben keine große Hoffnung, dass der Fall noch geklärt wird.“

Niklas‘ Großmutter Waltraud P. ist eine leidgeprüfte Frau Ende 70, man sieht ihr nicht an, was sie in den vergangenen Jahren durchmachen musste. 1990 trennte sich ihr Mann von ihr, seitdem konzentrierte sich ihre Fürsorge auf ihren Sohn Markus, der jahrzehntelang gesundheitliche Probleme hatte, so erzählt sie es. 2013 starb ihr Sohn Markus mit 44 Jahren, er war Niklas‘ Vater. Alles an Niklas erinnerte Waltraud P. an ihren gestorbenen Sohn, sie hatte gehofft, Niklas, anders als seinen Vater Markus, in Frieden und ohne größere Zwischenfälle aufwachsen zu sehen. Diese Hoffnung starb am 12. Mai, als die Ärzte im Krankenhaus Niklas‘ Tod feststellten.

„Wie geht man damit um?“, fragte Waltraud P. im Brief an unsere Zeitung.

Jemand, der eine Antwort geben könnte, ist Pfarrer Picken, der auch Niklas‘ Mutter seelsorgerisch betreute. Nach dem Freispruch im Mai 2017 hatte er gesagt: „Wenn ein Rechtsstaat nicht im Stande ist, den Bürger vor Übergriffen zu schützen wie es bei Niklas der Fall war und auch die Justiz es nicht schafft, die Täter dingfest zu machen, dann ist das eine doppelte Frustration des Bürgers.“

Doch zu seelsorgerischen Fragen möchte sich Picken nicht mehr öffentlich äußern, eine Anfrage unserer Zeitung ließ er mit Verweis auf eine „Abstimmung mit der Familie“ unbeantwortet.

Vor einigen Tagen erklärte sich Niklas‘ Schwester bereit, mit unserer Zeitung zu sprechen, sie sagte, sie tue das vor allen Dingen für ihre Großmutter, Waltraud P. Die Schwester ist gerade 20 geworden, trotz allem, was 2016 passierte, machte sie in diesem Frühjahr Abitur. Sie habe bewusst nicht am Prozess gegen Walid S. teilgenommen, sagt sie, weil sie nicht wieder in allen Einzelheiten mit dem Fall konfrontiert werden wollte. Natürlich sei es unbefriedigend, wenn der Täter nie gefunden würde, sie hat auch Zweifel, ob das Urteil tatsächlich gerecht ist. Aber andererseits: „Auch wenn jemand verurteilt würde, bekäme ich deswegen meinen Bruder nicht zurück.“ Und besser werde niemand verurteilt als der Falsche, nur um die Öffentlichkeit zu beruhigen.

Niklas‘ Schwester sagt, sie denke jeden Tag an ihren Bruder, und sie versuche, sich so gut es geht zu beschäftigen, um nicht zu viel an ihn zu denken. Die große öffentliche Anteilnahme, die vielen freundlichen Sachen, die über Niklas gesagt wurden, würden ihr das Gefühl vermitteln, dass ihr Bruder nicht vergessen wird.

Ihre Freunde helfen ihr, sagt sie, und auch, dass ihre Ausbildung begonnen hat. Sie lernt neue Menschen kennen, bekommt neue Aufgaben. Sie wird, anders als ihre Großmutter, die ganze Zeit ziemlich beschäftigt sein.

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