70 Jahre NRW Ein Rheinländer der besonderen Art

Gemeinsamkeiten, persönliche Erfahrungen und Erinnerungen an Zeitgeschichte: Zwei alte Freunde im Gespräch.

Damals begann das Schuljahr nach den Osterferien: Wolfgang (links) und Arno an ihrem ersten Schultag 1953 in Hückeswagen.

Damals begann das Schuljahr nach den Osterferien: Wolfgang (links) und Arno an ihrem ersten Schultag 1953 in Hückeswagen.

Mönchengladbach. „Jede gute, alte Zeit war einmal eine schlechte Neue“, sagt mein Freund Arnold Biciste am Ende unseres Zwiegesprächs mit einem Augenzwinkern. Wir beide, in diesem Jahr 70 Jahre alt, kennen uns seit gut 65 Jahren. Aufgewachsen sind wir als Nachbarskinder in der Kleinstadt Hückeswagen im Bergischen Land. Das verbindet uns bis heute. So alt wie unser Land mit dem Bindestrich — sind wir Nordrhein-Westfalen? Wolfgang, der Verfasser dieser Zeilen, sieht sich als Rheinländer. Arno geht noch tiefer und sieht sich als „Bergischer, das ist ein Rheinländer der besonderen Art.“ Das Besondere: „Wir sind nachdenklicher.“

Heimat ist für uns Hückeswagen. Kindheit, Schule, Kirche, Sommer an der Bever-Talsperre — alles überschaubar. Man kannte sich, damals. „Heute“, sagt Arno, „kenne ich mehr Namen auf dem Friedhof als in der Stadt.“ Unsere Eltern waren befreundet. Arnos Vater, Handelsvertreter, hatte das erste Auto weit und breit, natürlich einen Volkswagen. Damit fuhren zuweilen zwei Familien am Wochenende ins Grüne: Schloss Burg, Müngstener Brücke, Märchenwald Altenberg. Wolfgangs Vater, Lehrer, half den Beiden beim Französisch-Lernen nach. Abends spielten die Erwachsenen Canasta.

70 Jahre NRW: Ein Rheinländer der besonderen Art
Foto: Sergej Lepke

Nach dem Gymnasium gingen die Freunde eigene Wege. Zunächst zum Wehrdienst: Arno als Panzergrenadier im westfälischen Hemer, Wolfgang als Artillerist in Philippsburg in Baden. Arno erinnert sich: „Die guten Sportler unserer Klasse waren meist untauglich. Diagnose Scheuermann’sche Krankheit.“ Heute würde man sagen: Die hatten Rücken.

Arno studierte Jura in Köln, trat in die Junge Union ein, war schließlich CDU-Vorsitzender und Mitglied im Rat seiner Heimatstadt und im Kreistag. Beruflich, beim Städte- und Gemeindebund in Düsseldorf, arbeitete er Tür an Tür mit Jürgen Rüttgers, dem späteren Ministerpräsidenten. Biciste als Referent für kommunale Finanzfragen, Rüttgers als Referent für Gebührenrecht. Seitdem sind sie befreundet.

Politik geht oft verschlungene Wege. Arnos Mutter Agnes Biciste (CDU) war 1975 die erste Frau in Nordrhein-Westfalen, die Bürgermeisterin wurde. Arnos Bruder Manfred brachte es als SPD-Politiker in den Rat der Stadt Köln.

Mutter Agnes und Sohn Arno in einem Rat — geht das? „Das ging sehr gut“, sagt der Filius. „Ich war ihr eine Stütze.“ Und zwei Brüder in unterschiedlichen Parteien? „Wir haben uns in der Sache gestritten, sind aber regelmäßig zusammen in Urlaub gefahren. Politik hat nie zwischen uns gestanden.“

Den Bau der Berliner Mauer haben die Freunde Arno und Wolfgang gemeinsam verfolgt - im August 1961 im Zeltlager der katholischen Jugend am Forggensee bei Füssen. Informationsquelle war damals die Bild-Zeitung. Als die Mauer am 9. November 1989 fiel, war Arnold Biciste Stadtdirektor in Bedburg im Erftkreis und Wolfgang Radau Chef vom Dienst bei der Westdeutschen Zeitung in Düsseldorf. Journalistische Erinnerung an jene Zeit: „Die Ereignisse überschlugen sich Tag für Tag. Was morgens noch eine dicke Schlagzeile wert war, war am Abend von anderen, noch bedeutenderen Entwicklungen zur Meldung heruntergedampft worden.“

Klassiker aller Erinnerungen von Menschen unserer Zeit ist der 22. November 1963. „Wo haben Sie vom Attentat auf US-Präsident Kennedy erfahren?“ Der Pennäler, damals schon wild entschlossen, Reporter zu werden, war auf dem Weg zum Tischtennistraining des ATV Hückeswagen. „Es wurde nur über Kennedy gesprochen“, erinnert sich Wolfgang, „Tischtennis war an dem Abend kein Thema.“

Ein weiteres Ereignis hat sich tief in das Gedächtnis des Nachrichtenmannes eingegraben: der 27. Mai 1971. Eine der vielen schlimmen Meldungen, die Minute um Minute aus aller Welt in die Redaktion tickerten: Zugunglück mit 46 Toten. Dann, beim näheren Hinsehen: Unfallort ist Radevormwald-Dahlerau, unmittelbare bergische Nachbarschaft. „Da entsteht ganz persönliche Betroffenheit: Das blutige Ende einer Klassenfahrt — 41 Schüler, zwei Lehrer, zwei Bahnbedienstete und eine Mutter tot. Und einer der Lehrer der Sohn vom Skatbruder meines Vaters. . .“

Arnold Biciste kommt eine ganz andere persönliche Erinnerung in den Sinn: Der Nordrhein-Westfalen-Tag 2013. Einen ganzen Sonntag sollten sich Gemeinden, Bürger, Vereine, Musikanten aus dem 17,7 Millionen Einwohner-Land im bergischen 15 000 Einwohner-Städtchen Hückeswagen treffen und darstellen. Dann kam der 24. Juli 2010, an dem in Duisburg die Loveparade in einer fürchterlichen Massenpanik endete. 21 junge Menschen starben, 652 wurden verletzt. Die Debatte um die Sicherheit dauert bis heute an. Hückeswagens Bürgermeister Ufer entschied schließlich, den Entscheidungsträgern seiner Kleinstadt sei die persönliche Verantwortung für eine solche Großveranstaltung nicht zuzumuten. Die Vorbereitungen wurden gestoppt, die Bewerbung zurückgegeben, das Fest ersatzlos abgesagt.

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