Die Riesenschildkröten sind zurück

Auf der kleinen Maskarenen-Insel Rodrigues gedeihen wieder stattliche Landschildkröten. Zu Besuch im tierischen Tropen-Paradies.

Patrick ist ein kerniger Typ, kräftig gewachsen, selbstbewusst, unternehmungslustig — ein Mann in der Blüte seines Lebens. Im Alter von 93 Jahren bringt der überzeugte Vegetarier sein Idealgewicht von 240 Kilogramm auf die Waage. Die daraus resultierende Schubkraft, gepaart mit aufrechtem Gang und wachem Blick, hält Nebenbuhler auf Distanz und lockt Verehrerinnen an.

Als adulte Aldabra-Riesenschildkröte (Aldabrachelys gigantea) ist Patrick gleichermaßen Stolz wie Hoffnung des Nachzuchtprojektes „Francois Leguat“ auf der Maskarenen-Insel Rodrigues, die zu Mauritius gehört.

Eine angenehme Stille beherrscht den Morgen am Boden der eingestürzten Kalksteinhöhle. Noch hat die Tropensonne nicht jeden Winkel der Kraterlandschaft aufgeheizt. Es ist Frühstückszeit. Das erste Geräusch zwischen den Felsbrocken und dicht über der saftig grünen Grasnarbe erinnert an das geduldige gleichförmige Rupfen und Mampfen, das man in Mitteleuropa von Schaf- oder Kuhweiden kennt. Im Naturreservat „Francois Leguat“ rupft und mampft jedoch kein bäuerliches Nutzvieh, sondern eine Schildkrötenherde: Hunderte Tiere, von Halbwüchsigen im Format eines Schuhkartons bis hin zu Prachtexemplaren wie Patrick, die in ihren Ausmaßen einer mit Gartenabfällen hoch beladenen Schubkarre ähneln.

Schildkröten sind die ältesten Reptilien der Erde. Schon vor 220 Millionen Jahren, lange vor den Dinosauriern, waren sie an Land und später auch im Wasser unterwegs. Heute sind es der Mensch und sein Verständnis vom globalen Miteinander, die fast alle 313 Arten der Überlebenskünstler an den Rand des Aussterbens bringen, darunter die an Land lebenden Riesenschildkröten. Deshalb sind Schutzprojekte wie das auf Rodrigues wichtig. Doch warum bemüht man sich ausgerechnet dort um ihre Rettung?

Die Antwort führt 300 Jahre zurück. Rodrigues, 109 Quadratkilometer Vulkangestein weit draußen im Indischen Ozean, war einmal der Riesenschildkröten-reichste Platz der Welt. Es ist überliefert, dass der französische Seefahrer und Naturkundler Francois Leguat als einer der ersten Besucher 1691 solche Mengen an Schildkröten vorfand, dass er bei Landgängen mühelos mehrere hundert Meter von Panzer zu Panzer springen konnte, ohne den Boden zu berühren.

Unter dem Panzerdach befand sich ausschließlich die auf Rodrigues heimische langhalsige und -beinige Sattelrücken-Riesenschildkröte (Cylindraspis vosmaeri). Von dieser im Profil als „giraffenähnlich“ beschriebenen Art soll es gleichzeitig 300 000 Exemplare gegeben haben, die in Herden im dichten Wald lebten. Nach nur 50 Jahren mit dem Menschen an ihrer Seite standen sie vor der Ausrottung: Das lag erstens daran, dass sie in großen Stückzahlen als lebender Proviant auf die Schiffe geschleppt wurden, zweitens an der fortschreitenden Besiedlung der Insel. 1794 wurde das letzte Exemplar gesehen. Dann hatte der Mensch sie schlicht aufgegessen.

Dass es heute wieder Riesenschildkröten auf Rodrigues gibt, ist engagierten Wissenschaftlern zu verdanken, die den Rat des britischen Naturforschers Charles Darwin (1809-1882) befolgten. Der Evolutionstheoretiker hatte schon in den 1870er Jahren empfohlen, einige Exemplare der Aldabra-Riesenschildkröte vom Aldabra-Atoll auf den Seychellen nach Mauritius zu bringen. Dort sollte eine Zweigpopulation entstehen, um die ausschließlich auf dem winzigen Atoll beheimatete Art nicht auf einen Schlag durch eine Naturkatastrophe zu verlieren. Seit den 1880er Jahren werden sie auf Mauritius erfolgreich nachgezüchtet.

Seit 1985 stehen die Betreiber des Naturreservats „La Vanille“ in der Verantwortung. Unter Anleitung der Biologen Owen und Mary Griffiths wurde es zur weltweit größten Zuchtanlage für Aldabra-Riesenschildkröten und die kleinere, auf Madagaskar stark gefährdete Strahlenschildkröte (Astrochelys radiata). Um beiden Arten ein drittes Standbein zu schaffen, etablierte man die Tiere nach mehr als 200 Schildkröten-losen Jahren auch auf der Nachbarinsel Rodrigues — als Ersatz für die dort ausgestorbenen Arten.

„Dass die Tiere eines Tages wieder frei auf der Insel leben, ist unrealistisch“, erklärt Projektmanager Aurèle André. „Dazu ist sie zu dicht bewohnt. Einige wenige Tiere könnten ein Maisfeld in kürzester Zeit verwüsten und damit die Bauern gegen sich aufbringen. Deshalb war unser Plan“, ergänzt André, „in ,Francois Leguat’ wenigstens ein Stückchen ursprüngliches Rodrigues zu schaffen, so wie es vor 300 Jahren ausgesehen hat.“ Dazu wurden seit 2006 gut 125 000 Setzlinge seltener Baum- und Buscharten im Reservat gepflanzt.

Mit 22 000 Besuchern im Jahr hat sich das Reservat zur Insel-Attraktion gemausert. Mehr als 200 Riesenschildkröten genießen das Privileg eines Pflegepaten irgendwo auf der Welt. Wer dem frechen Patrick einmal persönlich in die Augen geschaut hat, der wird ihn lange in Erinnerung behalten.

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