Der unauffällige Waffennarr

Der Amokläufer war ein Jugendlicher aus gutem Elternhaus. Seine dunkle Seite kannte kaum einer.

Winnenden. Verschlossen, unauffällig und freundlich - aber auch verzweifelt, eiskalt und psychisch krank. Der 17 Jahre alte Amokläufer galt als Waffennarr. Sein Vater war Mitglied im Schützenverein - ihn begleitete er oft zu Schießübungen. In seinem Zimmer bewahrte der Schüler zudem mehrere Luftwaffen auf. "Manchmal auf dem Spielplatz hat er mit anderen aus der Klasse oder aus der Umgebung aufeinander geschossen", sagt Mario H., ein ehemaliger Mitschüler.

Noch dazu verbrachte Tim Kretschmer, der eine drei Jahre jüngere Schwester hat, in den vergangenen Monaten viel Zeit mit Killerspielen am Computer. Auf seinem Rechner entdeckte die Polizei das Spiel Counterstrike. "Er wurde einfach von niemandem akzeptiert, saß den ganzen Tag eigentlich nur daheim vor dem Computer", sagt Mario.

Was die meisten nicht wussten: Der Amokläufer war psychisch krank. Mehrmals wurde er wegen Depressionen in einer Klinik behandelt. Eine geplante ambulante Behandlung trat der 17-Jährige jedoch gar nicht erst an.

Seine Eltern wussten von seiner Krankheit - trauten ihrem Sohn eine solche Tat aber nicht zu. Jetzt stehen sie unter Schock, am Tag nach dem Blutbad haben sie nur einen Wunsch: Sie wollen Abschied nehmen, ihren Sohn zum letzten Mal sehen. Deshalb fahren sie in die Gerichtsmedizin nach Stuttgart, wo er aufgebahrt ist. Tims Vater ist ein Erfolgsmensch. Er baute ein Unternehmen mit 100Mitarbeitern auf, fährt einen Porsche; seine Angestellten schätzen den 42-Jährigen als loyalen Chef, der "sein Herz am rechten Fleck trägt". Ihre Villa im Ort wird belagert von dutzenden Übertragungswagen der Fernsehsender, doch sie sind längst geflohen an einen anonymen Ort.

Für den baden-württembergischen Landespolizeipräsidenten Erwin Hetger ist der Fall noch lange nicht abgeschlossen. Er will nun die Psychiater befragen, die den Jungen behandelt hatten. "Wenn Lehrer die Probleme solcher Kinder erkennen und dafür sorgen, dass sie rechtzeitig in eine Konfliktbetreuung kommen, könnten Amokläufe verhindert werden", sagt Hetger.

Baden-Württembergs Kultusminister Helmut Rau vermutet, dass der 17-Jährige "eine doppelte Identität" hatte - "dabei ist die zweite verborgen geblieben." "Bei dem hat man nichts Schlimmes gemerkt", sagt auch ein Jugendlicher aus dem Heimatort des Täters, Leutenbach-Weiler zum Stein. Tim sei zwar immer wieder von Gleichaltrigen geärgert worden, habe das aber runtergeschluckt.

Unauffällig hatte er auch am Morgen der Tat das Haus verlassen - in Jeans, Pullover und einer Jacke. Doch in seiner Tasche steckten mehr als 250 Schuss Munition. Die Fahnder sind sicher, Tim seit entschlossen gewesen, "so viele Menschen wie möglich" zu töten. Man habe wohl trotz der vielen Opfer das Schlimmste verhindert. lum/dpa

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