Flüchtlinge Asylverfahren: NRW-Gerichten droht der Kollaps

Die Verwaltungsgerichte in NRW sind überlastet. In diesem Jahr werden an Rhein und Ruhr fast 90.000 Verfahren erwartet, im vergangenen Jahr waren es knapp 51.500. Gegen fast jeden abgelehnten Asylantrag wird geklagt.

Flüchtlinge: Asylverfahren: NRW-Gerichten droht der Kollaps
Foto: Volker Hartmann

Aachen. Wenn es um Flüchtlinge geht, wird viel von Zahlen gesprochen, von Statistiken, vieles bleibt vage und abstrakt. Abstrakt bleibt, dass jeder Flüchtling sein eigenes Schicksal mit nach Deutschland bringt, abstrakt bleibt aber auch, was jeder einzelne Flüchtling für die Verwaltung der Bundesrepublik bedeutet.

Die Bundesregierung rechnet damit, dass dieses Jahr bis zu 400 000 Menschen über das Mittelmeer nach Europa kommen, mehr als doppelt so viele wie 2016. Und viele haben, wenigstens mittelbar, ein Ziel: Deutschland. Dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) kaum Herr über die Hunderttausenden Asylanträge wird, ist bekannt. Dass die Verwaltungsgerichte, die über Klagen gegen die vom Bamf erlassenen Bescheide zu entscheiden haben, fast nichts anderes mehr machen als das, ist kaum bekannt.

Die Präsidentin des Aachener Verwaltungsgerichts, Claudia Beusch, sagte am Mittwoch: „Wenn gegen alle Bescheide des Staates in dem Maße geklagt würde wie gegen die Asylbescheide des Bamf, dann bräche der Staat zusammen.“

Ein Tag Ende März, zwei Gerichtssäle. Eindrücke von einem normalen Arbeitstag am Aachener Verwaltungsgericht.

Das Ehepaar B. hat das Neugeborene mitgebracht, außerdem sind Vertreter einer Pfarre in Jülich dabei, die Ervin B. im Moment als Hausmeister beschäftigt. Die B.s, 31 und 29 Jahre alt, kamen im Dezember 2014 von Albanien nach Deutschland, im November 2016 stellten sie einen Asylantrag, den das Bamf ablehnte. Das Ehepaar klagt gegen den Bescheid, sie erklären Richter Frank Schafranek, sie würden verfolgt, das habe das Bamf nicht bedacht.

Der Ex-Verlobte seiner Frau bedrohe sie, sagt Ervin B., in Albanien hätten sie zehn bis 15 Drohbriefe und Anrufe erhalten. Ob sie sich an die Polizei gewendet hätten, fragt der Richter. Ervin B. sagt nein. Sie seien „Zigeuner“, wie er sagt, sie hätten dunkle Haut und würden diskriminiert. Und auf die Hilfe der Polizei bräuchten sie schon gar nicht zu hoffen. In Jülich hingegen habe er eine Konditorlehre in Aussicht. Die Vertreter der Pfarre melden sich zu Wort, obwohl es an Gerichten nicht üblich ist, dass Zuschauer mitdiskutieren. Schafranek lächelt milde und erteilt ihnen das Wort. Er weiß, was jetzt kommt. Eine ältere Frau sagt, die B.s seien „wirklich sehr beliebt und integrativ motiviert. Wenn Sie die wieder zurückschicken...“, sagt die Frau und hebt drohend ihren Zeigefinger in Richtung Richtertisch.

Schafranek überlegt kurz. Die Albaner, sagt er schließlich, seien anders als Deutsche, „in Albanien wird schon mal gedroht, auch heftig gedroht“. Dennoch sei der erste Weg, zur Polizei zu gehen.

Schafraneks Urteil ist noch nicht zugestellt worden, doch wie es lauten wird, kann sich jeder ausrechnen, der weiß, dass Anspruch auf Asyl nur staatlich Verfolgte haben.

Osman Q. gehört einer ethnischen Minderheit in Somalia an, 2003 heiratete er eine Frau eines anderen Stammes. Als das erste gemeinsame Kind auf die Welt kam, wollten die Brüder der Frau Q. dazu zwingen, sich scheiden zu lassen. Andernfalls werde er sterben, so schildert es Q. jetzt vor Gericht. Die Familie floh 2004 in einen anderen Teil des Landes. Osman Q. sagt, dass er weiter Drohanrufe erhalten habe, 2007 sei die Familie in noch weiter gezogen. Doch die Anrufe gingen immer weiter.

Warum er die Telefonnummer nicht gewechselt hat, will Richter Schafranek wissen. Das habe er getan, sagt Q., doch die Brüder der Frau hätten jede neue Nummer sofort herausbekommen. Schafranek möchte wissen, warum Q. sich nicht an die Polizei gewandt habe. Die würde auf der Seite der Brüder seiner Frau stehen, glaubt Q.

2010 habe Q. sich zur Flucht aus Somalia entschlossen, seine Frau und drei Kinder ließ er zurück. Er wäre früher geflohen, erklärt Q., aber er habe nie genug Geld dafür gehabt. Im März 2015 kam er nach Deutschland, im Juni 2015 stellte er einen Asylantrag, den das Bamf ablehnte.

Bei der Bamf-Anhörung hatte Q. die Geschichte etwas anders erzählt, wie Schafranek feststellt. Q. glaubt, das habe an der Dolmetscherin gelegen, die kein Deutsch gesprochen habe. Müsste er zurück nach Somalia, werde er getötet.

In Somalia wird niemand politisch verfolgt, sagt Schafranek, schon weil es kaum staatliche Strukturen gebe. Das ist auch der Grund, warum im Moment keine deutsche Fluggesellschaft Somalia anfliegt: zu gefährlich. Deswegen wird dorthin nicht abgeschoben. Andere Länder bringen abgeschobene Somalier nach Kenia und von dort mit Autos an die somalische Grenze. Deutschland verzichtet auf den Aufwand.

Osman Q. hat Schafraneks Urteil noch nicht erhalten, doch auch in diesem Fall wäre es überraschend, wenn seiner Klage stattgegeben würde. Wahrscheinlich muss er zurück nach Somalia, aber: Wenn er nicht freiwillig zurückgeht, erhält er sehr wahrscheinlich eine Duldung und darf hier bleiben, wie im Grunde jeder Somalier, der es hierher schafft.

Ibrahim N. floh im Juni 2012 von Afghanistan aus in die Türkei, im Sommer 2015 kam er mit dem großen Flüchtlingsstrom über die Balkanroute nach Deutschland und wurde in eine Flüchtlingsunterkunft nach Erkelenz gebracht. Das Bamf lehnte seinen Asylantrag im August 2016 ab, und als er Klage gegen den Bescheid einreichte, gab er an, das Bamf habe nicht bedacht, dass er kurz vor seiner Anhörung zum christlichen Glauben konvertiert sei. Einige Monate später erzählt er vor Gericht seine Geschichte: Er sei zwar als Moslem aufgewachsen, habe sich aber schon während seiner Zeit in der Türkei vom Islam abgewendet und für andere Religionen interessiert. In Deutschland habe es gedauert, Kontakt zu christlichen Kreisen zu bekommen, weil er die Sprache nicht beherrscht. Schließlich fand er im Sommer 2016 eine Pfingstkirche in Düsseldorf, in der Asylbewerber sich kurzfristig taufen lassen können. Ibrahim N. sprach im Sommer 2016 zwei Mal mit einem Geistlichen, dann war es soweit: Auch er wurde getauft, jetzt gilt er als Christ.

Richter, die solche Fälle zu bewerten haben, müssen sich darüber im Klaren sein, dass sie Konvertiten in manchen Fällen in den Tod schicken, wenn sie ihnen das Bleiberecht absprechen. Andreas Beine, der bei dieser Verhandlung den Vorsitz führt, ist ein solcher Richter, aber Beine ist noch etwas anderes: ein aktiver Christ mit profunden Bibelkenntnissen.

Er versucht also herauszufinden, ob N. tatsächlich vom muslimischen Glauben abgefallen und nun ein gläubiger Christ ist, oder ob er sich nur aus asyltaktischen Gründen hat taufen lassen. N.s Problem ist, dass er sich bei seiner Bamf-Anhörung als Schiit vorgestellt hat. Von seinen Plänen, zum Christentum zu konvertieren, sagte er den Beamten dort kein Wort.

Beine sagt: „Das ist verdammt taktisch.“ Der Richter stellt einige Fragen zur Bibel, die Ibrahim N. behauptet zu studieren. Doch die Befragung läuft nicht gut. Er weiß noch, dass Johannes der Täufer es war, der Jesus taufte, danach kommt nicht mehr viel. Beine schüttelt den Kopf und verdreht die Augen. Zwei Wochen später bestätigt Beine den Bamf-Bescheid, Ibrahim N. ist ausreisepflichtig, zumindest wenn er nicht weiter klagt. Die nächste Instanz wäre das Oberverwaltungsgericht Münster.

In einem ähnlichen Fall entscheidet Beine jedoch anders: Shekeb A. (21), ebenfalls ein zum Christentum konvertierter Afghane, der nun in Kall in der Eifel lebt, darf in Deutschland bleiben. Möglicherweise half die Tatsache, dass Shekeb A. sich 2014 selbstständig einen Deutschkurs in Kall suchte, die Abendschule besucht und sich während der gesamten Verhandlung mit Richter Beine weitgehend auf Deutsch unterhalten konnte.

Im Sommer 2015 kamen die M.s von Albanien nach Deutschland, irgendwann landeten sie im Kreis Euskirchen und stellten im Herbst 2016 einen Asylantrag, den das Bamf ablehnte. Familie M. klagte, nun stehen sie vor Richter Schafranek.

Mentor M. erklärt, er habe in Albanien ein Internetcafé betrieben und sei von drei Muslimen bedroht worden. Wenn er nicht helfe, 15 seiner Gäste zu bewegen, zum Islam zu konvertieren, passiere ihm etwas. Mentor und Bukurie M. flohen nach Deutschland, hier kam auch ihr Kind zur Welt. Er sei nicht sicher gewesen, ob die albanische Polizei ihn und seine Frau hätte beschützen können.

Vergangenen Herbst, kurz vor der Anhörung beim Bamf, fuhr das Ehepaar mit dem Kind zur Uniklinik Bonn. Es sei schwarz angelaufen und habe so etwas wie einen epileptischen Anfall gehabt, sagt Mentor M. Die Ärzte konnten aber nichts feststellen. Der Hausarzt empfahl in einem Attest die kardiologische Beobachtung des Kindes, die in Albanien allerdings nicht gewährleistet sei.

Sehr wahrscheinlich wird auch diese Klage abgewiesen. Doch was die Gesundheit des Kindes betrifft, kann die Familie einen sogenannten Asylfolgeantrag stellen. Möglicherweise beschließt das Bamf, dass das Kind vor der Abschiebung eingehender untersucht werden muss. Solange dürfen auch die Eltern in Deutschland bleiben.

Am Ende des Tages sagt Schafranek, er gebe gern sein Bestes, aber er habe nicht Jura studiert, um nur noch über Asylklagen zu entscheiden. Er sagt: „Entweder die Flüchtlingswelle geht, oder ich.“ Er verlässt den Saal und geht in sein Büro. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich die Akten.

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