Apotheker aus Bottrop - Pfusch mit Krebsmedikamenten vor Gericht

Ein Apotheker aus Bottrop steht vor Gericht, weil Patienten zu wenig Wirkstoff erhielten, die Kassen um Millionen Euro betrogen wurden. Nebenklage-Anwalt stellt Zuständigkeit des Gerichts infrage.

Apotheker aus Bottrop - Pfusch mit Krebsmedikamenten vor Gericht
Foto: dpa

Bottrop/Essen. Im Prozess um mutmaßlich gestreckte Krebsmedikamente stellt ein Nebenklage-Anwalt die Zuständigkeit des Gerichts infrage. Dass der angeklagte Apotheker Medikamente gepanscht habe, sei ein Mordversuch aus Habgier, argumentierte Siegmund Benecken, der eine der betroffenen Frauen vertritt.

Das Verfahren gehöre deshalb vor das Schwurgericht, das über entsprechend schwerwiegende Anschuldigungen verhandelt. Der Prozess startete am Montag aber vor der 21. Wirtschaftsstrafkammer des Essener Landgerichts. Das Gericht will über Beneckens Antrag aber erst entscheiden, wenn die umfangreiche Anklage verlesen wurde.

Knapp 62 000 Mal soll der Apotheker Krebsmedikamente gepanscht und so allein die gesetzlichen Krankenkassen um 56 Millionen Euro betrogen haben. Die Leidtragenden: mehr als 1000 Krebspatienten, die der Anklage zufolge Medikamente mit viel zu wenig oder gar keinem Wirkstoff erhielten. Heute beginnt vor dem Landgericht Essen der Prozess gegen den 47 Jahre alter Apotheker aus Bottrop. Viele Patienten und Hinterbliebene hoffen endlich auf Antworten. Und darauf, dass die Politik ihre Lehren aus dem Fall zieht.

Als vor knapp einem Jahr die „Alte Apotheke“ in Bottrop durchsucht wurde, fanden die Ermittler 117 Zubereitungen von teuren Krebsmedikamenten. Viele enthielten gar keinen oder viel zu wenig der verschriebenen Wirkstoffe. 27 davon soll der Apotheker Peter S. im Speziallabor seiner Onkologie-Schwerpunktapotheke eigenhändig hergestellt haben — und dabei nicht zum ersten Mal gepanscht haben, wie die Staatsanwaltschaft Essen überzeugt ist.

Drei der 27 Zubereitungen sollte eine krebskranke 51-Jährige aus Bottrop erhalten. In einer war kein Wirkstoff, in den beiden anderen „viel weniger, als vorgeschrieben war“, sagt der Anwalt der Frau, Aykan Akyildiz. Schon 2013 hatte sie eine Chemotherapie erhalten. Auch damals kamen die Medikamente aus der Bottroper Apotheke. „Sie fragt sich: „Warum bin ich wieder krank geworden? Würde es mir gut gehen, wenn ich die richtigen Medikamente bekommen hätte?“, erzählt der Anwalt. Seit die Frau ihre verschriebenen Medikamente auch wirklich bekomme, gehe es ihr deutlich besser.

In dem Prozess tritt die Frau als Nebenklägerin auf. Die Ermittler werfen dem zuvor in Bottrop hoch angesehenen 47-Jährigen vor, seit 2012 in insgesamt 61 980 Fällen gegen Rezepturen und sonstige Vorschriften verstoßen zu haben. Mit den Krankenkassen soll er trotz geringerer Dosierung die verschriebenen Mengen abgerechnet haben. Allein den gesetzlichen Krankenkassen soll dabei ein Schaden von rund 56 Millionen Euro entstanden sein.

Schwerpunktapotheken wie die in Bottrop gibt es in Deutschland rund 300. Sie verfügen über sterile Labore und versorgen Patienten individuell mit krebshemmenden Medikamenten.

Die Dimensionen des Bottroper Falles reichen weit über das Ruhrgebiet hinaus. Betroffen sind Patienten von 37 Ärzten, Praxen und Kliniken in sechs Bundesländern, die meisten in Nordrhein-Westfalen. Lieferungen gingen aber auch an jeweils eine Klinik oder Praxis in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Sachsen und im Saarland.

„Wir gehen davon aus, dass die Zahl der betroffenen Patienten im unteren vierstelligen Bereich liegt“, sagt Oberstaatsanwältin Anette Milk und betont, dass sich diese Zahl auf den Zeitraum ab Januar 2012 bezieht. Nach Recherchen des ARD-Magazins „Panorama“ und des Recherchezentrums „Correctiv“ soll der Apotheker seit 2005 insgesamt mehr als 7300 Menschen mit Wirkstoffen beliefert haben, für die die Stadt Bottrop eine Unterdosierung in den Infusionen annimmt.

Sabrina Diehl, Fachanwältin für Medizinrecht

Die Ermittlungen ins Rollen gebracht hatten zwei Mitarbeiter der Apotheke. Sie teilten der Staatsanwaltschaft ihre Beobachtungen mit. Am 29. November 2016 gab es dann eine Razzia, bei der der Apotheker festgenommen und sein Speziallabor geschlossen wurde. Über das Motiv des Mannes gibt es nur Spekulationen. „Wir kennen das Motiv nicht“, sagt Milk. Peter S. habe dazu keine Angaben gemacht.

Neben den tausendfachen schweren Verstößen gegen das Arzneimittelgesetz sowie gewerbsmäßigem Abrechnungsbetrug wirft die Anklage dem Apotheker auch versuchte Körperverletzung vor. Sie beschränkt sich dabei auf die sichergestellten 27 Zubereitungen.

Auch zivilrechtlich soll Peter S. belangt werden. Die Rechtsanwältin Sabrina Diehl aus Marl hat bereits erste Klagen auf Schadenersatz und Schmerzensgeld vorbereitet. Alle ihre Mandanten, Patienten und Angehörige seien „fassungslos und wütend auf den Angeklagten und das System“. Kontrollen solcher Apotheken funktionierten nicht oder seien nicht vorhanden.

„Das Sicherungssystem hat komplett versagt“, sagt die Fachanwältin für Medizinrecht. Auch sie berichtet von Patienten, bei denen die vermeintliche Therapie wirkungslos blieb: So seien sowohl Nebenwirkungen wie Haarausfall oder Übelkeit ausgeblieben als auch positive Wirkungen, sagt die 36-Jährige. Als Reaktion auf den Skandal hat Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) Verbesserungen bei der Kontrolle von Apotheken angekündigt. Viele Betroffene finden das Vorgehen der Politik viel zu zögerlich.

Der Angeklagte hat sich bislang nicht zu den Vorwürfen geäußert. Heute hat er nach der Verlesung der Anklage erneut Gelegenheit dazu. Die ersten Zeugen will die Strafkammer morgen hören. Wie lange der Prozess dauern wird, ist noch offen. Bis Mitte Januar hat das Gericht bereits Termine festgelegt.

Sollte es zu einer Verurteilung kommen, sieht das Arzneimittelgesetz bei schweren Verstößen Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren vor. Über das Vermögen des Apothekers hat die Staatsanwaltschaft bereits sogenannten Arrest verhängt. Auch die Verhängung eines Berufsverbots ist laut Gericht beantragt.

Die Apotheke in Bottrop ist weiterhin in Betrieb. Der Angeklagte hat sie nach Angaben der Stadt seiner Mutter übertragen, von der er sie vor einigen Jahren übernommen hatte. Individuelle Krebsmedikamente werden dort nicht mehr hergestellt.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort