Das etwas andere Bewerbungsgespräch: Rekrutierung von Autisten

Walldorf (dpa) - Mit seinen langen zusammengebundenen Haaren erfüllt der Bewerber das Klischee eines IT-Spezialisten. Doch er hat andere Qualitäten als die jungen Menschen, die den Personalern bei Europas größtem Softwarekonzern SAP normalerweise gegenübersitzen: Er ist Autist - und damit bei dem Unternehmen hoch im Kurs.

Bis zum Jahr 2020 sollen weltweit 1 Prozent der zuletzt rund 65 000 SAP-Mitarbeiter Menschen mit Autismus sein. In diesen Tagen laufen Bewerbungsgespräche, um die ersten Kandidaten für SAP in Deutschland zu finden. Die Rekrutierung übernimmt Specialisterne, ein dänisches Unternehmen, das auf Autismus in der Arbeitswelt spezialisiert ist.

Der Geschäftsführer von Specialisterne Deutschland, Matthias Prössl, lässt die Bewerber zum Beispiel komplexe Lego-Roboter bauen. „Man kann viel über die Menschen lernen in dieser Phase“, sagt er. Wie lange können sich die Bewerber konzentrieren? Wie kreativ sind sie beim Bauen? Halten sie sich an die Anleitung oder weichen sie davon ab? Derzeit seien sieben Bewerber in der engeren Auswahl - von rund 120 Bewerbern in Deutschland. Auch Programmierübungen stehen auf dem Programm, schließlich sollen die Autisten als IT-ler eingestellt werden. „Einer hat gleich einen Sensor gebaut, der ihm folgt“, erzählt Prössl.

Normalerweise schaue SAP bei der Mitarbeiterauswahl stark auf Teamplayer-Eigenschaften und auf die Kommunikationsfähigkeit, sagt Anka Wittenberg, bei dem Konzern zuständig für Vielfalt und Integration. „Aber mit dieser Vorgehensweise scouten wir immer die gleichen Talente.“ Eine Strategie, auf die SAP angesichts des Fachkräftemangels nicht länger ausschließlich setzen kann.

Bestimmte Merkmale seien bei Autisten oft besonders ausgeprägt, erläutert Kai Vogeley, Autismus-Experte der Universität Köln: logisches und analytisches Denken, die Fähigkeit, Abweichungen in Daten, Informationen und Systemen zu erkennen, sowie eine hohe Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer - vor allem bei Aufgaben, die sich wiederholen. Damit seien sie häufig gut für IT-Berufe geeignet.

Um diese neuen Talente zu finden, braucht es auch neue Rekrutierungswege. Prössl sagt: „Die wenigsten Bewerber hätten es mit ihren Unterlagen zu einem klassischen Bewerbungsgespräch gebracht.“ Sie wären wahrscheinlich vorher ausgesiebt worden - und SAP hätte wertvolle Arbeitskräfte gar nicht erst zu Gesicht bekommen.

Autisten könnten dem Unternehmen viele Vorteile bringen, erläutert Wittenberg. „Menschen mit Autismus verstehen keinen Sarkasmus und auch nicht das, was zwischen den Zeilen steht - sondern genau das, was man ihnen sagt.“ Pilotprojekte hätten gezeigt, dass sich dadurch die gesamte Kommunikation in den gemischten Teams verbessere. Das zeigen zum Beispiele erste Erfahrungen der Konzerns in Indien. Die autistischen Mitarbeiter sollen bei SAP Software testen.

Unternehmen, die gezielt Autisten suchen, sollten den Bewerbern vor einem Auswahlgespräch am besten den Fragenkatalog schicken, rät Autismus-Experte Vogeley. „Auf vorhersehbare Standardfragen können sich Autisten gut vorbereiten. Sobald die Dinge unvorhersehbar und unüberschaubar werden, wird es schwierig.“ Gut wäre es sogar, den Bewerbern vorab Fotos des Bewerbungsraumes und der Gesprächspartner zu schicken. Außerdem empfiehlt Vogeley beim Gespräch eine reizarme Atmosphäre: möglichst wenig Gerüche, geschlossene Fenster und keine klackenden Absätze auf dem Gang.

Personaler können vieles falsch machen, wenn sie mit Autisten einfach ein klassisches Bewerbungsgespräch führen. „Der Small-Talk vorneweg ist für Autisten ganz furchtbar. Die ganze vorbereitete Gesprächsroutine geht vielleicht völlig verloren“, sagt Vogeley. Dafür müssten sich die Interviewer keine großen Sorgen machen, belogen zu werden. „Autistische Menschen lügen sehr ungern, wenn überhaupt.“

Mit Vorträgen und Fragerunden führt SAP Mitarbeiter an das Thema heran. Ziel sei es, Unsicherheiten abzubauen, sagt Wittenberg. Beschäftigte, die künftig direkt mit Autisten zusammenarbeiten sollen, werden besonders geschult. Irritationen beim Umgang mit den neuen Kollegen könnte es in der Mittagspause geben. „Alles, was Small-Talk ist, wird etwas hölzern sein“, sagt Autismus-Experte Vogeley. „Das sind einfach Dinge, für die sich autistische Menschen in der Regel nicht interessieren.“

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