Meinung Gott sei Dank sind die Verhandlungen zäh

Wie war das eigentlich, als Sie den letzten Familienkonflikt beigelegt haben? Ging es da von Anfang an um die beste Lösung? Hat niemand versucht, erst einmal seine Position zu behaupten — aus Stolz, aus Angst, aus Trotz?

Meinung: Gott sei Dank sind die Verhandlungen zäh
Foto: Sergej Lepke

Waren stattdessen alle sofort kompromissbereit und dem großen Ganzen verschrieben?

Wir werden derzeit Zeugen zweier großer Konfliktverhandlungen: der Sondierungsgespräche in Berlin und der Klimakonferenz in Bonn. Im einen Fall geht es um die Zukunft dieses Landes in den nächsten vier Jahren, im anderen gleich um die Zukunft des ganzen Planeten. In Familien hängt der Haussegen auch aus geringeren Anlässen gerne mal für Wochen schief. Ein unzulässiger Vergleich?

Nein, eher Beleg für ein verqueres, überhöhtes Verständnis von Politik und Politikern. Sie sollen das leisten, wozu wir selbst nicht in der Lage sind — als sei politische Vernunft von menschlichem Verhalten in all seiner Größe und Erbärmlichkeit zu trennen. Wer aber kann im Ernst erwarten, vier politische Parteien, die in dieser Konstellation nicht koalieren wollten, könnten hochkomplexe Weichenstellungen für Jahre einfacher bewältigen als ein seit Jahren vertrauter Familienkreis die Verteilung der Aufgaben im gemeinsamen Haushalt?

Genervte Journalisten, die nicht länger gelangweilt vor verschlossenen Konferenzsälen herumlungern wollen, und Teile einer reizüberfluteten Gesellschaft wenden sich angesichts zäher Verhandlungen und einer vermeintlichen Ergebnislosigkeit bereits enttäuscht ab. Dabei weiß jeder, der sich jemals in einen Ratsausschuss oder eine Landtagssitzung verirrt hat: Demokratie ist in weiten Teilen unsexy, mühsam, zäh, spröde, langweilig. Darin liegt einer der Hauptgründe für ihre latente Gefährdung. Aber darin zeigt sich auch ihr größter Wert: weil es um den diffizilen Ausgleich nicht nur unterschiedlichster Interessen, sondern auch unterschiedlichster Charaktere geht.

Dieser Prozess mag mitunter kindisch anmuten. Aber kindischer ist die Sehnsucht nach der starken Hand, die Erlösung verheißt. Familien führt diese Sehnsucht oft genug in die Zerrüttung, Gesellschaften führt sie in die Autokratie. Die Ergebnisse in Bonn und Berlin werden am Ende vermutlich keine Jubelstürme hervorrufen. Aber die bleiben auch in Familien aus, wenn sich alle wieder mühsam zusammengerauft haben.

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