Gesellschaft ist auf Leistung programmiert

Das Einser-Abitur ist keine Seltenheit mehr.

Wenn vor 30 Jahren jemand sein Abitur mit der Traumnote 1,0 gemacht hat, war das eine Sensation. Solch ein Abiturient schaffte es nicht nur auf die erste Seite des Lokalteils der Tageszeitung, er durfte sich auch über ein Foto mit dem Schulminister freuen. Heute mutieren die Feierstunden der Jahrgangsbesten eher zu Massenveranstaltungen, denn von Jahr zu Jahr nimmt die Zahl der Schulabgänger zu, die ihre Prüfungen mit einer Eins vor dem Komma ablegen. Ganz unabhängig übrigens vom Bundesland. Womit die Frage, ob Nordrhein-Westfalen auf einmal zum Flächenland der Intelligenzbestien geworden ist, sogleich verneint werden kann. Die Gründe für die Einserflut sind woanders zu suchen.

So hat sich seit der ersten Pisa-Untersuchung Anfang der 2000er Jahre viel getan im Land der Dichter und Denker. Die katastrophalen Ergebnisse führten zu zahlreichen Bildungsreformen, die zwar Lehrern wie Schülern extrem viel abverlangten, gleichzeitig aber die Qualität des Unterrichts steigerten. Auch wenn etliche Kritiker das inzwischen eingeführte Zentralabitur als die Verständigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner betrachten, so darf man dessen Vorzüge nicht vergessen: Die Aufgaben lassen sich besser kalkulieren. Den Lehrkräften wird es leichter gemacht, ihre Schüler gezielt auf die Standards vorzubereiten.

Unbestritten ist auch, dass der Druck auf die Abiturienten stetig zunimmt. Unsere Gesellschaft ist auf Leistung programmiert. Ohne Einser-Abi stehen die Chancen auf begehrte Studienplätze schlecht. Wer etwa Medizin studieren will, benötigt mindestens einen Noten-Durchschnitt von 1,1. Mit dem doppelten Abiturjahrgang in diesem Jahr hat sich in NRW der Druck noch einmal erhöht.

Ein wenig nachdenklich stimmt jedoch, dass Deutschland diese vermeintliche Erfolgsgeschichte schreibt, ohne gleichzeitig seine Bildungsinvestitionen erhöht zu haben. Im internationalen Vergleich ist uns die Ausbildung unserer Kinder immer noch wenig wert. Hat man also das Abitur womöglich „billiger“ gemacht, um die Basis zu legen für mehr Akademiker und Fachkräfte, nach denen OECD und Wirtschaftsverbände rufen? Ein Einser-Abitur ist eine Auszeichnung, aber Top-Leute dürfen nicht in der Masse untergehen.

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