Meinung Die schnellen nutzlosen Antworten auf den Terror

In ihrem Blog „On The Media“ des öffentlichen New Yorker Radios WNYC schreiben die Journalisten Brooke Gladstone und Bob Garfield seit drei Jahren einfache Regeln auf, die Mediennutzer sich als Haftnotiz an die Bildschirme kleben können, um in schwierigen Nachrichten-Lagen nicht in die Irre zu geraten.

Meinung: Die schnellen nutzlosen Antworten auf den Terror
Foto: Schwartz, Anna (as)

Regel Nummer fünf auf der Notiz für Terror-Ereignisse lautet übersetzt: „Schenken Sie Politikern wirklich keine Beachtung. Vorfälle wie diese sind für politische Manipulationen wie gemacht, besonders in einem Wahlkampfjahr, und Politiker jeder Farbe werden versucht sein, ihre Lieblings-Agenda zu pushen.“

Genau das haben wir seit Montagabend auf allen Kanälen gehört, gesehen und gelesen. Es weiß zwar keiner, was wirklich passiert ist, aber alle haben ein Rezept, was jetzt „deshalb“ sofort zu tun ist.

„Deshalb“ werden seit Dienstag Weihnachtsmärkte mit Betonsperren versehen, um sie gegen Nachahmungstäter zu schützen, wo es vielleicht reichen würde, einen nützlichen Rettungswagen in der Zufahrt zu parken.

„Deshalb“ gehen seit Dienstag auf NRW-Weihnachtsmärkten Polizisten mit Schutzwesten und Maschinenpistolen Doppelstreife, als könnte das einen 40-Tonner stoppen und würde nicht bloß verhindern, dass die Beamten in dieser Montur einen Taschendieb verfolgen können.

„Deshalb“ sind wir alle gefordert, jetzt erst recht auf Weihnachtsmärkte zu gehen, weil wir uns von den Terroristen nicht unser Weihnachten und unsere Art zu leben kaputt machen lassen dürfen.

In aller Klarheit: Wir müssen gar nichts. Wer sich nicht wohl fühlt bei dem Gedanken, sich jetzt in die Menschenmenge eines Weihnachtsmarkts zu begeben, sollte es auch nicht tun. Terroristen und Amokläufer sind für Botschaften wie demonstrative Weihnachtsmarktbesuche unempfänglich. Es ist ihnen im Übrigen völlig gleichgültig, ob Weihnachtsmärkte stattfinden oder nicht. Sie wollen mit dem geringsten Mitteleinsatz so viele Menschen wie möglich töten. Das ist alles. Egal wie, egal wo.

Terroristen wie Amokläufer sind durch die Bank Verlierer und Versager, die aus der zivilisierten Gesellschaft ausgetreten sind. Weder sind sie kaltblütige Profis noch gehen sie auch nur annähernd planvoll vor, und erst recht verfügen sie weder über die Macht noch die Mittel, jederzeit und gezielt nach Belieben irgendwo zuschlagen zu können. Es gibt derzeit keine einzige terroristische Organisation, die in der Lage wäre, ein Anschlags-Szenario wie den 11. September zu planen, zu finanzieren und auszuführen, ohne dabei vorher erwischt zu werden. Viel mehr als einen Lkw zu stehlen, den Fahrer zu töten und darauf zu hoffen, nicht in eine Polizeikontrolle zu geraten, bleibt ihnen in Wahrheit nicht.

Wer ihnen mehr Macht zuspricht, macht diese Amateur-Mörder viel größer, als sie sind. Wer die Angst, die sie verbreiten, noch vergrößern will, muss sich fragen lassen, welche Ziele er damit verfolgt.

Im Fall des AfD-Vorsitzenden in NRW, Marcus Pretzell, der sich am Montagabend auf Twitter mit seinen Entgleisungen selbst überbot, ist das eindeutig: Pretzell ist bereit, die Toten und Verletzten vom Breitscheidplatz zu instrumentalisieren, um ganz grundsätzlich gegen Flüchtlinge zu hetzen.

Dass Horst Seehofer in das gleiche Horn stieß und ohne jede Kenntnis der Faktenlage forderte, nun müsse die Zuwanderungspolitik neu ausgerichtet werden, disqualifiziert den CSU-Chef einmal mehr. Man muss kein FDP-Anhänger sein, um dem Liberalen-Chef Christian Lindner in seiner Aussage vom Dienstag zuzustimmen: „Jeder Versuch, aus dem Anschlag in Berlin politisches Kapital zu schlagen, ist ein Zeichen von Charakterlosigkeit.“

Zwölf Menschen sind tot, einige schweben wohl noch in Lebensgefahr, viele sind schwer verletzt. Dass das auf einem Weihnachtsmarkt in der Woche vor Weihnachten geschah, macht es nur noch schlimmer in einer Zeit, in der das Land eine Atempause gut brauchen könnte. Ein paar friedliche Tage ohne Hass und Hetze, um den Kopf und das Herz wieder dafür frei zu bekommen, was dringend gelingen muss, nämlich nach vorne zu denken und die Zukunft zu gestalten.

Das Weihnachtsfest ist dafür die richtige Zeit. Seine Botschaft lautet „Fürchtet Euch nicht“. Vielleicht mögen Sie am Freitag zum 1. Krefelder Weihnachtssingen auf der Galopprennbahn gehen oder, wenn Sie allein sind, an Heiligabend in Wuppertal in die Historische Stadthalle. Es tut gut, jetzt Gemeinschaft zu suchen — Gemeinschaft der Hoffnung, nicht der Angst.

Was die Nachrichten angeht: Die zehnte Regel auf dem Notizzettel von Brooke Gladstone und Bob Garfield lautet „Seien Sie geduldig. Egal worum es geht, die Aufklärung der Geschichte wird Zeit brauchen.“ Es werden Fehler passieren. Und berichtigt werden. Versprochen.

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