Wir sind die Demokratie

Das Büchlein „Widerrede“ von Martin Roth wirft die Frage auf, welchen Einsatz der Erhalt der Freiheit von jedem Einzelnen verlangt.

Wir sind die Demokratie
Foto: Alexander Gronsky/Max Bohm/www.verlag-eva.de/Leonard Jedynak

Düsseldorf. Das Büchlein ist umfasst nur 96 Seiten. An einem Tag, maximal einem Wochenende, hat man es locker gelesen. Es ist also noch genügend Zeit bis zur Bundestagswahl in anderthalb Wochen. Vermutlich gibt es kaum einen besseren Zeitpunkt der Lektüre — nicht, weil es etwa noch einer weiteren argumentativen Unterfütterung bedürfte, um das Privileg des Wahlrechts auch wirklich wahrzunehmen. Sondern eher, weil die Zeiten vorbei sind, in denen wir uns danach wieder für vier Jahre zur Ruhe setzen konnten.

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Foto: Alexander Gronsky/Max Bohm/www.verlag-eva.de/Leonard Jedynak

Ob es wirklich allein der Brexit war, der den gebürtigen Stuttgarter Martin Roth im vergangenen Herbst bewogen hat, nach fünf Jahren an der Spitze des Victoria and Albert Museums in London zu kündigen, sei dahingestellt. Aber dass es einen weltläufigen Kulturmanager und Bildungsbürger wie ihn aufgebracht hat, „wie da mit welchen Lügen und welcher Polemik agiert wurde“, ist unstreitig. „Begriffe wie Freiheit, Toleranz und Solidarität sind mir heilig. Heilig ist ein großes Wort, aber es geht auch um viel“, schreibt er in seinem Essay zu Beginn des Buchs „Widerrede“.

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Motiviert ist es nicht nur durch die politische Entwicklung vor der Brexit-Entscheidung in Großbritannien, nicht nur durch die Entwicklung Europas und der Welt, sondern auch durch die Entwicklung in seinem Heimatland Deutschland, auf das Roth zunehmend fassungsloser blickte: „Da sind Leute auf der Straße und inzwischen auch in den Parlamenten, die keine wirklichen Ziele haben — außer unser System zu zerstören“.

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Roth hat sich auf das besonnen, was in der politischen Diskussion bis zum Überdruss als Keimzelle der Gesellschaft beschworen wird: seine Familie. Der Großteil des Buches gibt Diskussionen mit seinen drei Kindern Mascha (28), Roman (27) und Clara (20) wieder, aufgeteilt in die vier Kapitel „Reden wir über die Welt“, „Reden wir über Europa“, „Reden wir über Deutschland“ und „Reden wir über uns“.

Vielleicht hilft Reden nicht immer und überall. Aber was beim Lesen ganz unabhängig von den Einwürfen, Argumenten und Sichtweisen deutlich wird: dass es nicht reicht, Demokratie als Zuschauer geschehen zu lassen. „Die Generation unserer Eltern hat viel akzeptiert, viel zu viel akzeptiert“, beklagt sich Clara an einer Stelle. Die Kernfrage, die das Familiengespräch aufwirft, stellt sich aber allen Generationen aufs Neue: Wie äußert sich eigentlich ein Nichtakzeptieren? Zu lange galt zu vielen bei der Beantwortung dieser Frage bereits ihre innere Haltung als demokratisches Engagement.

„Mir geht es um den Unterschied zwischen Denken und Handeln. Das steht doch zu oft in einem Kontrast“, wirft Mascha völlig zu Recht ein. Und an anderer Stelle: „Wählen zu gehen, das ist für mich das absolute Minimum an Verantwortung.“ Aber in ihrer Generation fänden sich „nun wahrlich keine erprobten Kämpfer für die Demokratie“. Von der „Gefahr kollektiven Vergessens“ spricht ihr Vater und meint damit die Erinnerungen der Alten an Krieg, Nationalismus und Diktatur als stärkstes Argument für ein demokratisches Europa.

Martin Roths „Widerrede“ ist umweht von Sorge („Ich mache mir Sorgen um euch, um meine Familie, um mich selbst. Vielleicht auch deshalb, weil sich eure Generation bisher nicht genug Sorgen gemacht hat“) — und von persönlicher Tragik. Noch drei Wochen vor dem Erscheinungstermin erlag der rastlose Weltbürger in Berlin seiner Krebserkrankung. Er starb im Kreis seiner Familie und hinterließ ihr zugleich als Vermächtnis in Buchform den väterlichen Appell, neu um politische Sprach- und Handlungsfähigkeit zu ringen. „Wir sind das Volk“, lautete der Weckruf auf dem Weg zum Mauerfall. Wollte man Martin Roths Einwurf zu Populismus, Werten und politischem Engagement auf eine ähnliche Formel einkochen, hieße sie wohl: Wir sind Demokratie.

Roth hatte zuletzt sein politisches Betätigungsfeld gefunden. Er engagierte sich für die Initiative Offene Gesellschaft, deren Mitbegründer André Wilkens das Vorwort zum Buch beisteuerte. Die Initiative will die Demokratie durch bürgerschaftlichen Einsatz stärken. Auch Mascha und Roman Roth haben sich anstecken lassen: Sie gehören weiterhin zum Team dazu.

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