Bundestagswahl 2017 „Se“ sind im Rheinland immer alles schuld

Angela Merkel und Martin Schulz sind im Land unterwegs, um den Menschen zuzuhören. Am Niederrhein werden sie auf eine anonyme Macht stoßen, die einfach alles beherrscht: "Se".

Bundestagswahl 2017: „Se“ sind im Rheinland immer alles schuld
Foto: Korsten

Niederrhein. Es ist Mittwochvormittag, aber fies schmieriges Wetter wie in Neuss am Montag, nur etwas nördlicher am linken unteren Niederrhein. Zwei Männer und eine Frau nehmen unter der Markise vor einer Bäckerei-Filiale Platz und blicken auf den schmucken Regionalbahn-Haltepunkt gegenüber. Drei Jahre Bauzeit, 5,5 Millionen Euro für barrierefreie Bahnsteige mit (funktionierenden!) Aufzügen, dazu eine lichte Unterführung.

Unbeeindruckt stellt die Expertengruppe fest: „Vollkommen an den Menschen vorbei gebaut.“ Da kann man nämlich das Fahrrad gar nicht vernünftig durchschieben durch diese Unterführung: „Da bleibse mit dem Lenker in der Wand hängen.“ Früher (Anm. d. Red.: Das ist die Zeit, in der alles besser war) war doch noch Platz für einen Kinderwagen neben dem Fahrrad. „Wie kann man nur so einen Mist bauen.“ Und dann kommt die Sprache auf die Verantwortlichen: „Da fragt man sich, wat se sich dabei gedacht haben.“ „Se“. Unbekannte von unbekannter Zahl und unbegrenztem Einfluss, deren langer Arm Bahnhofs-Umbauten falsch planen und über das Internet Wetterlügen verbreiten kann. „Jetzt fängt es wieder an zu regnen. Im Internet haben se gesagt, das soll erst heute Abend.“ Wahrscheinlich könnten „se“ das in Wahrheit gar nicht so präzise vorhersagen.

Da Bahnhofsumbau und Wetter nicht zu ändern sind, wendet sich die Expertengruppe nun kommenden Ereignissen zu: Schützenzug und Bundestagswahl. „Beim Umzug erhöhen se die Auflagen ja auch wieder, wegen der Sicherheit.“ Oder wegen der Flüchtlinge. Die meisten sind ja unregistriert. Oder so. Genau weiß man es nicht, jedenfalls — Themenwechsel muss man können — steht fest: „Die Merkel bleibt dran.“ Ursache dieser Wahlprognose: „Den Schulz kannste vergessen.“ Begründung: „Der war ja nur im Europaparlament. Wat hat der denn für uns getan?“. Ja, da haben „se“ einen Fehler gemacht. „Wenn se mal den Steinmeier genommen hätten.“ Es folgt ein tiefes Durchatmen in der Gruppe. Man weiß nicht so genau, ob es den kurzen Gedankengang vom Sturz Merkels durch Steinmeier begleitet, oder sich der Vorstellung nähert, „se“ könnten — fehlbar wie „se offenbar sind — möglicherweise konkrete Menschen sein.

Nun muss man an dieser Stelle festhalten, dass dem Niederrheiner seine Sprache grundsätzlich gegeben ist, um die Welt um ihn herum zu vernebeln und verunklaren, ihn vor Unumstößlichen zu schützen und in der Wärme des Ungefähren zu belassen. „Da jagen sich die Rätsel“, schrieb Hanns Dieter Hüsch, „warum is hier nix los un doch alles los. Un woanders is alles los, un gar nix los. Der Niederrhein, denk ich immer, macht einem nix vor. Da gibbet keine kalkulierte Romantik, sondern eine Musik aus Vergessen und Erinnern, un da draus entsteht das Gefühl am Ende der Welt, am Ende aller Tage zu sein.“ Wer die Phantasie studieren wolle, so Hüsch, der solle ein paar Semester an den Niederrhein kommen und dann als Lohengrin wieder in die große Welt fahren. Wohl wahr. Und angesichts des Schwans stünden wohl zwei Niederrheiner daneben und sprächen anerkennend aus: „Han se schön jemaat.“ Muss man sich merken, wenn man zwischen Grevenbroich und Kleve halbwegs zurecht kommen will: Se han jet jemaat. Es gibt keinen einzigen ernstzunehmenden niederrheinischen Text, in dem die anonyme Weltmacht „se“ nicht irgendetwas gemacht hat. Se können Politiker, Rathäuser, ganze Völkerscharen, Unbekannte und irgendwer sein, aber immer machen „se“ irgendwas.

Zum Beispiel, wie die Expertengruppe sich gerade aufregt: Diesel. „Normalerweise ist dat Betrug, wat se sich da geleistet haben.“ Denn da muss sich der Kunde doch drauf verlassen können, dass das Auto und seine Software funktionieren, und dass „se“ da jetzt anfangen von wegen Fahrverboten, das ist doch eine Sauerei. „Der Einzige, wo se dran kommen, ist der kleine Mann.“ Wir lernen. „Se“ sind nicht immer nett. Aber mächtig. Im Gegensatz zu den Grünen (deshalb haben die Grünen einen Namen und gehören nicht zu „se“). Die sind nicht mächtig, die sind bekloppt, weil sie den Diesel abschaffen wollen. „Die würden am liebsten im Ruderboot fahren.“ Hahaha. Wobei: Es regnet ja viel am Niederrhein. Wer weiß, wat se sich dabei wieder gedacht haben.

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