Zeitreisen ins Rock-Paradies: Wilson und Ranaldo

Berlin (dpa) - Wer derzeit per Zeitreise in eine paradiesische Ära der Rockmusik gelangen will, sollte sich an Jonathan Wilson oder Lee Ranaldo wenden: Die neuen Alben der beiden Gitarristen führen zurück in die 70er Jahre - vorzugsweise an die US-Westküste.

Ebendort lebt und arbeitet der 38-jährige JONATHAN WILSON, ein langhaariger, bärtiger Multi-Instrumentalist und Produzent, der schon äußerlich das Hippie-Ideal längst vergangener Zeiten verkörpert. Mit „Fanfare“ (Bella Union/Pias/Cooperative) erfüllt er sich nun bereits zum zweiten Mal den Traum von einer melodieseligen, hemmungslos nostalgischen Hommage an die frühen bis mittleren Seventies.

Schon sein grandioses Debüt „Gentle Spirit“ (2011) hatte sich mit 78 Minuten Spieldauer und einigen zwölfminütigen Liedern alle Zeit der Welt genommen - es passte gerade noch auf eine CD und beanspruchte zwei Vinylplatten. Auch auf dem ebenso ausufernden Nachfolger ignoriert Wilson - bis auf wenige Ausnahmen wie den kompakten Countryrocker „Love To Love“ - alle normalen Songformate.

Der mit sinfonischem Bombast startende, dann Richtung Pink Floyd der „Animals“-Phase abbiegende Opener und Titeltrack gibt die Richtung vor: Hier wird nicht gekleckert, sondern geklotzt. Jede Menge Streicher, Harmoniegesänge à la Crosby, Stills, Nash & Young (Beispiel: das prachtvolle „Cecil Taylor“), wuchtig hallende Drums, Orgel und Grand Piano, jazzige Saxofone, allerorten epische Gitarrensoli - mit Understatement hat Jonathan Wilson nichts am Hut.

„Ein völlig aufgeblasene analoge 70er-Jahre-Produktion“ habe er von vornherein im Sinn gehabt, räumte Wilson im Interview des britischen Musikmagazins „Uncut“ ein. „Dafür brauchte ich hunderte Stunden im Studio, es ging über neun Monate.“ Und ja, „alle Pink-Floyd-Referenzen waren völlig beabsichtigt“ - etwa im Psychedelic-Juwel „Lovestrong“. So unverblümt hat sich selten ein noch recht junger Musiker zu seinen weit zurückliegenden Wurzeln und Einflüssen bekannt. Sogar Wilsons Stimme klingt wie ein Zwitter aus Roger Waters und David Gilmour.

„Fanfare“ sorgt aber auch als Promi-Treff der besonderen Art für Entdeckerfreuden: Graham Nash, David Crosby, Jackson Browne, Josh Tillman (Ex-Fleet Foxes), Pat Sansone (Wilco) und Benmont Tench (Tom Petty and The Heartbreakers) lieferten bei den Sessions in Los Angeles Vokal- und Instrumentalbeiträge ab. Das Ergebnis beeindruckt - wenn man auf perfekt nachgestellte, aus der Zeit gefallene Rockmusik steht.

Im Gegensatz zum Enddreißiger Wilson hatte man den deutlich älteren LEE RANALDO (57) eher nicht als Retro-Rocker auf dem Zettel. Und doch gönnt sich der Gitarrist der kürzlich aufgelösten großen Noise- und Avantgarde-Band Sonic Youth jetzt den Luxus, ein Album auf den Markt zu bringen, das dem Westcoast-Rock der 70er huldigt. Besonders Neil Youngs frühe Alben mit Crazy Horse lassen sich als Inspiration für „Last Night On Earth“ (Matador/Beggars/Indigo) benennen.

Ranaldos vor gerade mal eineinhalb Jahren erschienenes Solowerk „Between The Times And The Tides“ hatte mit konzisen, weitgehend lärmfreien Songs und einer stattlichen Liste von renommierten Gästen überrascht. Dagegen spielte der Mann mit dem grauen Wuschelschopf sein neues Album nun unter dem Projektnamen Lee Ranaldo and The Dust mit lediglich drei anderen Musikern ein - Sonic-Youth-Kollege Steve Shelley am Schlagzeug, Alan Licht an der zweiten Gitarre und Tim Lüntzel am Bass.

Die Konzentration auf ein kleines, eng zusammengewachsenes Ensemble hat „Last Night On Earth“ hörbar gut getan. Die Band nimmt sich viel Raum für krachende Gitarren-Exkursionen nach bewährter Westcoast-Rock-Manier, streut aber auch immer wieder überraschende Sounds wie etwa Cembalo oder Vibrafon ein. Dazu singt Ranaldo so selbstbewusst und wohltönend wie selten.

Inhaltlich sind die Songs düster, wütend und zugleich voller Sehnsucht nach sozialen Veränderungen - Lee Ranaldo schrieb sie im Herbst 2012 während der Hurricane-Sandy-Katastrophe an der US-Ostküste, beeinflusst von der „Occupy Wall Street“-Bewegung. Musikalisch vermitteln die neun monumentalen Lieder den Eindruck eines Befreiungsschlages (wohl auch nach dem Ende von Ranaldos langjähriger Band). Es sind die besten in Ranaldos Solokarriere.

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