Campino im WZ-Interview: „Ich will alles von Kästner lesen“

Der Frontsänger der erfolgreichsten deutschen Band über seine Krise beim Texten, dichterische Anregungen und aktuelle Politik.

Düsseldorf. Spaß und Zeitverschwendung prägten den Anfang, dann entwickelte sich die Karriere der Toten Hosen einmalig. Seit 30 Jahren gibt es die Band, mit Campino und Bassist Andi werden gleich zwei ihrer Mitglieder in diesem Jahr 50 Jahre alt. Das neue Album „Ballast der Republik“ greift bewusst auch politische Themen auf.

Campino, Anfang und Ende des neuen Albums sind instrumental eindringlich: Eine Uhr tickt die Sekunden herunter, die Musik wird immer dramatischer — ein Countdown mit klassischem Touch. Das nennt ihr „Drei Kreuze“, die ihr im Stück „Altes Fieber“ auch noch besingt.

Campino: Wir haben uns bemüht, dem Album die Dinge hinzuzufügen, die es braucht, um es rund zu machen. Der klassische Einstieg und der Auskehrer gehören dazu, dazu ein Verzahnen der Lieder, statt sie in lockerer Ansammlung zu präsentieren.

Als ihr 40 Jahre alt wart, habt ihr in den Rückspiegel geguckt und das Leben Revue passieren lassen. Heute — zehn Jahre später — scheint die Grundstimmung etwas gesetzter nach dem Motto: Schön, noch auf dem Platz zu stehen.

Campino: Das stimmt, aber ich möchte das nicht zu hoch hängen. Es ist ja auch eine flapsige Note darin: Drei Kreuze machen und jetzt weiter.

Bei den existenziellen Themen verbreitet ihr einen neuen Humor. Du sprichst in einem Stück auf berührende Art zu deinem Vater, aber am Ende wird in „Vogelfrei“ sogar der Tod zur Party, und der Teufel feiert mit.

Campino: Ich habe die ersten Stücke im vorigen Sommer meinem Bruder vorgespielt. Er übte auf harte Weise Kritik, aber von ihm konnte ich das ertragen. Er lag richtig damit, dass sich das Meiste zu lebensunfroh anhörte. Er meinte, ich müsse diese Talsohle verlassen. Ich habe dann viel Energie darauf verwendet, dass die Stücke vom Blick her lockerer werden.

Was war der Grund für die Trübsal? Der 30. Geburtstag der Band?

Campino: Zu solchen Jubiläen kommen die Rückblicksfragen. Die darf man auch zulassen, solange man sich irgendwann sammelt und dann vom Hier und Jetzt aus berichtet. Es ist eine Frage der Perspektive, in den Spiegel zu blicken und zu sagen: Verdammt noch mal, die Band wird 30 und ich 50, und wir sehen auch so aus. Oder du sagst: Mensch, wir haben Glück gehabt. Wir sind immer noch zu großen Teilen an Bord — das ist etwas, das wir würdigen sollten. Das mündet in einen Humor, in dem man Frieden macht mit diesem Zustand.

Nach dem Album „In aller Stille“ nun der „Ballast der Republik“— ihr sagt selbst, dass dies ein Signal gegen zu viel Innerlichkeit ist. Was schleppt das Land denn mit sich herum?

Campino: Ich habe das Lied mit Marteria geschrieben, einem Hip-Hopper, der in Rostock geboren ist. Wir wollten ein Lebensgefühl treffen, das dich angeht, egal ob du in den alten oder den neuen Bundesländern geboren bist. Wir leben immer noch mit dem Ballast auf den Schultern, der Konsequenz des Zweiten Weltkriegs ist. Wir fragen immer mit ein wenig Angst, wie denn das Ausland reagiert — und diskutieren mit Besuchern darüber, ob es seit der WM 2006 okay ist, deutsche Fahnen zu schwenken. Der Streit um Günter Grass hatte doch allein dieses Ausmaß, weil er Deutscher ist. Viele junge Leute sind von diesem historisierenden Reflex genervt.

In dem Lied heißt es, wir hätten keine Zeit mehr für Politik und Religion — und wenn es Götter gibt, dann tragen sie Trikots. Verdrossenheit auf allen Ebenen also?

Campino: Das Gestolper von Wulff war doch nur ein Beispiel. Man hat den Eindruck, die meisten Politiker machen ihren Job heute nicht mehr aus Leidenschaft wie die Generation gleich nach dem Krieg, sondern weil es um Karrieren und Macht geht. Dieser Polit-Orbit ist so abgenabelt, dass sich viele ihm nicht nähern wollen. In der Kirche, vor allem der katholischen, haben wir in den vergangenen zehn Jahren eine absolute Frustration erfahren. Die Kirchen werden immer leerer, voll sind nur die Stadien.

Und was ist mit der persönlichen Verantwortung? Regiert da nicht der gleiche Egoismus wie im Stück „Europa“, das vom Flüchtlingstod im Mittelmeer erzählt?

Campino: Es schockiert mich immer wieder, auch an mir selber, wie man bei diesen Meldungen abstumpft. Nach dem Motto: Da handelt es sich ja nur um ein italienisches Problem. Dabei ist dies eine Festungspolitik, die wir alle mittragen.

Die Texte sind sprachlich teils stärker verdichtet als früher. Wenn man auf dem beigefügten Benefit-Album das vertonte Gedicht von Erich Kästner hört, spürt man fast eine Verwandtschaft.

Campino: Es würde mich freuen, wenn das eine mit dem anderen zu tun hätte. Ich will alles von Kästner lesen, nicht um mich fortzubilden, sondern ich lese voller Aufregung und Euphorie als Fan. Da bleibt es nicht aus, dass man vielleicht einmal in diesen Duktus verfällt. Es kann zuweilen sehr schwer sein, wenn man schon mehrfach über die gleichen Dinge geschrieben hat, sich nicht zu wiederholen. Insofern können solche neuen Anregungen fruchtbar sein.

Die Toten Hosen sind gerade auf Wohnzimmer-Tour. Sonst spielt ihr in Großhallen. Wie war das?

Campino: Jede Begegnung ist zunächst ein bisschen peinlich; an die Tür kommen, Hallo sagen. Die Nervosität löst sich dann meist auf, und es wird ein inniger Abend. Die Menschen empfinden den Auftritt als Geschenk, und wir haben ebenfalls unseren Spaß. Im Grunde ziehen wir eine Probe ab und spielen uns warm für die anstehenden Aufgaben.

Wer hat sich beworben?

Campino: Wir hatten mehr als 4500 Bewerbungen, darunter allein 17 freiwillige Feuerwehren. Ein Bewerber bekam den Zuschlag dank eines hollywoodreifen Films. In einem anderen halten sich Zombies mit Musik der „Ärzte“ am Leben, mit letzter Kraft sichert der Griff zu einem Hosen-Album das Überleben der Menschen. Sehr witzig. Wir sind auch zu einem Krankenhaus gefahren, wo wir auf der Urologie-Station übernachtet haben.

Ist diese Nähe nicht auch anstrengend?

Campino: Das ist okay, wir wollen uns ja nicht zurückziehen. Aber ich gebe zu: 20 solcher Konzerte in drei Wochen gehen an die Substanz. Mehrere Nächte nacheinander bis vier oder fünf Uhr durchfeiern - das haben wir früher leichter weggesteckt.

Jetzt steht wieder eine große Tour mit 120 Konzerten an. Wie stellt man sich mit fast 50 Jahren auf die körperlichen Strapazen ein?

Campino: Man überlegt sich etwas genauer, was man auf der Bühne tut. Ich trainiere auch, so gut es beim Pendeln zwischen Berlin und Düsseldorf geht.

Spielt Ernährung eine Rolle?

Campino: Pommes müssen es nicht mehr jeden Tag sein. Pasta gibt’s an Spieltagen. Das Bewusstsein für den Körper ändert sich. Seit geraumer Zeit nehme ich keine Milch mehr zu mir, ich hatte von den vielen Sorten Cappuccino einfach genug — die ganze Milch macht doch nur träge und dick

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