Avantgarde: Die kanadischen Art-Rocker Arcade Fire - Kafka zwischen Kirchenbänken

Angst als Triebfeder: Die kanadischen Art-Rocker Arcade Fire werden zu Recht als Band der Stunde gehandelt. Ihr zweites Album „Neon Bible“ ist ein grandioser Geniestreich.

<strong>Düsseldorf. Nein, es war kein Schuldkomplex. Und auch kein Zeichen nostalgischer Verklärung, nur weil man es mal ein paar Semester als Student der Religionswissenschaften versucht hat. Das neue Album "Neon Bible" in einer Kirche aufzunehmen, war schlicht und ergreifend "billiger". Will Butler zuckt mit den Schultern. Es soll heißen, warum bitte sollte man denn sonst ein Gotteshaus zu einem Musikstudio umfunktionieren. Etwa wegen des Karmas? Gott bewahre! Denn am Karma von Arcade Fire, der laut "Time Magazine" fesselndsten Band Kanadas, ist nichts auszusetzen. 2004 veröffentlichen sie "Funeral", einen musikalischen Meilenstein, der sie im gerade erblühenden Web 2.0 zu einer der ersten Bands macht, die ihren Bekanntheitsgrad glühender Netzpropaganda zu verdanken haben. Den versponnenen Freaks folgt der interessierte Mainstream, den kleinen Stadthallen-Gigs ein Fernsehkonzert mit David Bowie bei der BBC, ein Auftritt mit David Byrne im Hollywood Bowl und natürlich der krönende Abschluss als Vorband der letzten drei Tourkonzerte von U2.

Sperrige Art-Rocker mit Gespür für orchestrale Kabinettstückchen

Danach war Schicht im Schacht. Die Band, deren Besetzung ständig wechselt und sich aktuell bei sieben Mitgliedern eingependelt hat, war ausgelaugt. Sie brauchten Ruhe, neue Eindrücke, frei von Erfolgsdruck und Gehälterdiskussionen. Im Juli 2006 verkündet Win Butler, der mit seiner Frau Régine Chassagne das künstlerische Epizentrum von Arcade Fire stellt, dass das zweite Album eine unabhängige Produktion werde. Die Band geht unter die Unternehmer, mit sich selbst als Vermarktungsobjekt. Wie sich nun zeigt eine mehr als weise Entscheidung. Und angesichts des rasanten Aufstiegs der sperrigen Art-Rocker und ihres unfehlbaren Gespürs für orchestrale Kabinettstückchen muss nun das Aufnahmestudio, eine kleine Kirche nahe ihrer Heimatstadt Montréal, als übernatürliche Erklärungsgrundlage herhalten. So viel Erfolg, ganz ohne göttliche Fügung, ist offenbar nur schwer vorstellbar. Ob Schicksal oder Zufall, Fakt ist, dass Régine Chassagne über eine Annonce stolperte. Eine Kirche stand zum Verkauf. "Da dachten wir, die nehmen wir!" Régines Schwager Will, bei Arcade Fire für Gitarre und Percussions zuständig, versteht schon wieder nicht, warum das jemand außergewöhnlich findet. "Für Euch Europäer haben Kirchen eine andere Bedeutung, hunderte Jahre alt, groß, gewaltig, so herrlich. Unsere Kirche gehörte einem Althippie-Pärchen, das dort Folkkonzerte veranstaltete."

Über allem schwebt momentan die Angst

Ist es nun Blasphemie, die heiligen Hallen mit ihren traumwandlerischen Weltschmerz-Symphonien zu füllen? Natürlich nicht! "Wenn ich mein Bestes gebe, selbst wenn es ein lautes und verrücktes Konzert wird, ist das für mich keine Blasphemie", sagt Will Butler. Gott und die Welt, mehr gibt es nun mal nicht, darauf lässt sich alles reduzieren.

Highlights sind die erste Singleauskopplung "Keep the Car Running", die Synthesizer-Moritat "Black Wave/Bad Vibrations” und die episch vor sich hin dröhnende Bushkritik "Windowsills”.

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