Museumsräume mit Kunst als Spiel

„You and me“, „Du und ich“, nennt sich die Retrospektive für die Fluxus-Künstlerin Takako Saito.

Siegen. Anderthalb Lastwagenladungen mit diversen Kisten von Takako Saito wurden vor zwei Monaten im Museum für Gegenwartskunst in Siegen abgeladen und wochenlang ausgepackt. Gleichzeitig zog die Künstlerin ins Gästezimmer des Hauses, um dem Team von Museumschefin Eva Schmidt beim Aufbau zu helfen. Denn Siegen hat sich die Mammutaufgabe gestellt, die erste große Retrospektive der Fluxus-Künstlerin Takako Saito (88) zu präsentieren. In 14 Räumen ist alles untergebracht. Zur Vernissage wird am Sonntag eingeladen. Der Katalog wird allerdings noch einige Monate auf sich warten lassen.

Museumsräume mit Kunst als Spiel
Foto: Helga Meister

Fluxus ist eine lateinische Vokabel für „fließen“. Den Stil, den George Maciunas in den frühen 1960er Jahren in New York daraus ableitete, gleicht einem fließenden Übergang zwischen Kunst und Leben. Man könnte ihn auch als Dada der Moderne bezeichnen. Diese Richtung ist aktueller denn je angesichts von Aktionen und Performances jeder Art. Saito hört es dennoch nicht gern, wenn man sie als Fluxus-Künstlerin bezeichnet, weil der große George Maciunas die kleine Takako aus Japan eher ausgenutzt hat. „Er war ein sehr egoistischer Mensch“, sagt sie über ihren einstigen Nachbarn in Chinatown. Sie unterstützte ihn bei der Ausführung seiner Multiple-Editionen, was er ihr jedoch kaum dankte.

Sie war 34 Jahre alt, als sie ihre Heimat in Sabae-Shi bei Kyoto verließ. Sie hatte Kinderpsychologie studiert und an der Junior-Hochschule unterrichtet. Die Familie war jedoch entsetzt über ihren Weggang, weil man als junge Frau gefälligst auf einen Bräutigam hätte warten müssen. Ohne finanzielle Rückendeckung und familiären Zuspruch schiffte sie sich in New York ein, jobbte als Au-pair-Mädchen, als Kellnerin und Köchin.

Das sollte sie auch in ihren weiteren Stationen in Frankreich, England und Italien machen. Immer ging es darum, dass Aufenthaltsgenehmigungen nicht verlängert wurden. 1979 landete sie in Düsseldorf und blieb. Eva Thomkins hatte ihr eine Anstellung an der Werkkunstschule in Essen im Fach Textilgestaltung besorgt, und das Düsseldorfer Kulturamt vermittelte ein Atelier, in dem sie noch heute von morgens bis abends schöpferisch tätig ist.

„You and me“ nennt sie ihre Ausstellung in Siegen, denn nur im Miteinander kann ihrer Meinung nach Kunst entstehen. Die Besucher machen in der Regel selbstvergessen mit, was im Museum normalerweise nicht erlaubt ist. Aber bei Takako Saito gibt es sogar einen Shop, wo sich der „Kunde“ eine getrocknete Schale aus Avocado oder Orange, einen Teller oder eine Kaffeefiltertüte nimmt und mit kleinen, bereitstehenden Dingen füllt. Hat er sie bezahlt, werden Gefäß und Inhalt von ihr und vom Besucher signiert.

Drei Räume gelten allein dem Schachspiel, ihrem Steckenpferd. Maciunas hatte sie 1964 nach einer Idee dafür gefragt. Seitdem variiert sie das Spiel, die Struktur, die Anordnung der Steine, die Art der Figuren, die Aufteilung der Felder, die Materialien der Steine. Es rattern Erbsen oder Bohnen in Kästen. 1989 erfand sie ein Schachspiel für Mäuse, wobei das Drahtgehäuse zugleich als Mäusefalle taugt. An der Decke des Minikäfigs hängt statt Speck ein Miniheft. Bleibt die Frage, ob die Maus hereinspaziert.

1990 schuf Saito ein Hutschachspiel mit einer grauen Melone, in die sie Gras als Ersatz für Haare implantierte. Für den Aufstieg der Spielsteine gibt es Treppen im hölzernen Unterbau. Selbst aus Zahnstochern lässt sich ein Mikado-Spiel herstellen.

Als „Spiel ohne Regeln“ beschreibt sie eine große Magnetplatte, die sie mit Kronkorken, Teedosen oder Gurkenglasdeckeln besetzt. Der Besucher kann die Teile versetzen oder neue hinzufügen für sein eigenes „Porträt“. Das Ergebnis soll man mit einem beigefügten Polaroidapparat aufnehmen und signieren. Sie wird es auch signieren.

Die Künstlerin selbst klebt und steckt, sägt und bohrt, schneidert und schraubt. Sie hat keine handwerkliche Ausbildung, aber leistet die typisch japanische Feinarbeit selbst im Kleinsten. Präzision ist selbstverständlich.

Sie arbeitet permanent, aber sie ist auch bereit, alles wegzugeben. Zu ihrem 70. Geburtstag klebte sie monatelang Papierkästchen, um anschließend 5000 Stück in den Rhein zu werfen, wo sie zunächst auf den Wellen tänzelten, bevor sie untergingen.

Sie liebt noch immer das Experiment, erklärt voller Ernst, wie sie den Saft von roter Beete mit Zucker anrührt, um die Konsistenz zu verstärken, anschließend auf Pergament-Zeichnungen tropft und von der Rückseite bügelt. Selbst gebrauchte, noch nasse Filtertüten eignen sich als Unterlage, um die pigmentreiche japanische oder chinesische Tusche darüber laufen zu lassen und auf diese Weise Zeichnungen herzustellen. Ihre Kunst ist nicht Zeitgeist, nicht Mode, sondern poetischer Zauber. Museumschefin Eva Schmidt erklärt: „Mich fasziniert das Spielerische in ihrer Arbeit, diese von äußeren Zwecken freie, ungezwungene, von der Fantasie geleitete Tätigkeit.“

Im letzten Raum der Ausstellung ist das Spielen für jedermann erlaubt.

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