Ein Rundgang über die Kunstbiennale in Venedig

Venedig (dpa) - Am Eingang grüßen schwarz in Ölfarbe getauchte Fahnen, im Inneren führt eine Leiter ins Nichts. Die Kunstbiennale von Venedig hat sich in ihrem 120. Jahr zwar den Titel „All the World's Futures“ gegeben.

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Aber Kurator Okwui Enwezor macht schnell klar, dass es um alles andere als fröhliche Zukunftsmusik geht.

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„Die Ausstellung ist vielmehr ein Versuch, über Trümmer und Überreste nachzudenken“, sagt der 51-jährige Nigerianer, der 2002 schon als Leiter der Documenta in Kassel den Blick auf die Krisen der Welt warf. In Venedig, bei der 56. Ausgabe der weltweit wichtigsten Kunstschau (9.5.-22.11.), greift er die Folgen der Globalisierung noch radikaler auf. Was bedeuten sie für den Menschen? Was bringen sie an Krieg und Zerstörung, Willkür und Unterdrückung?

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Auch viele der 89 Nationen, die sich von Samstag an mit eigenen Ausstellungen in der Lagunenstadt präsentieren, nehmen Enwezors Thema auf - der Deutsche Pavillon fast überbemüht, andere eher assoziativ oder gar spielerisch. Alle zusammen verwandeln Venedig für die nächsten sieben Monate wieder in ein faszinierendes Panoptikum zeitgenössischer Kunst, in ein Labor der Welterkenntnis. Ein Rundgang.

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MARX UND DAS KAPITAL: Schon im Vorfeld hat Enwezor mit der Ankündigung Aufsehen erregt, er wolle während des gesamten Festivals, Tag für Tag, das „Kapital“ von Karl Marx vorlesen lassen. Im Zentralpavillon in den Giardini ist deshalb hinter Oscar Murillos schwarzen Flaggen und Fabio Mauris luftiger Leiter-Installation „The End“ eine Arena entstanden. Auf einer riesigen roten Bühne tragen zwei Männer in Schwarz die dreibändige Lehre von den Widersprüchen des Kapitals so spannend vor, dass das Publikum scharenweise bei dem ungewohnten „Oratorio“ hängenbleibt.

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Dazu hat der Berliner Künstler Olaf Nicolai, der schon drei leibhaftige Bumerang-Bauer auf das Dach des Deutschen Pavillons gestellt hat, Luigi Nonos zweiteilige Komposition „Un volto, e del mare / Non consumiamo Marx“ von 1968 als Performance umgesetzt. Den konsumkritischen Fotos von Andreas Gursky ist ein ganzer Raum gewidmet, Alexander Kluges zehnstündige „Kapitalverfilmung“ läuft als Video-Installation und posthum ist Harun Farockis gesamtes Filmwerk zu sehen. „Wir können nicht über Ungleichheit nachdenken, ohne über Kapital zu sprechen“, sagt Enwezor.

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In der Arena soll auch das anonyme syrische Künstlerkollektiv Abounaddara jeden Freitag eine neue Arbeit präsentieren. Die Filmemacher berichten über den Alltag im Bürgerkriegsland. Weil sie verfolgt werden, müssen sie heimlich arbeiten. Der krisengeschüttelte Irak ist mit der Gruppenschau „Invisible Beauty“ vertreten. Beklemmend besonders die Wasserfarben-Porträts enthaupteter IS-Terroropfer von Haider Jabbar.

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Insgesamt 163 Künstler aus 53 Ländern hat Enwezor eingeladen, viele davon kommen aus Afrika, Südamerika und Asien. Sie bringen die Stimmen ein, die in der eurozentrierten kommerziellen Kunstwelt so oft untergehen. Da ist Wangechi Mutus raumgreifendes Video einer afrikanischen Frau, die sich mit ihrem schweren Korb auf dem Kopf durch die Wüste kämpft. Oder die Installation des Ghanaers Ibrahim Mahama, der in den historischen Fabrikhallen des Arsenale einen ganzen Gang mit tausenden alten Kohlesäcken verhängt hat.

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NATUR UND IHRE ZERSTÖRUNG: In den Länderpavillons sind auch Natur und Umwelt ein wiederkehrendes Thema. Die kleine, vom steigenden Meeresspiegel bedrohte Pazifik-Insel Tuvalu erinnert an die Auswirkungen der Klimaerwärmung - schon ein Schritt des Besuchers kann das riesige smaragdgrüne Wasserbecken in der Halle zum Überlaufen bringen.

Fiona Hall hat für ihr Gruselkabinett „Wrong Way Time“ im neuen australischen Kubus geschundene Fundstücke der Natur zusammengetragen. Und der im Steigerwald lebende Herman de Vries zeigt für sein Heimatland Holland ausgebrannte Baumstämme, Rasenstücke und Erdfarben. Beim Rausgehen ist seine flüsternde Stimme zu hören: „Infinity, infinity ...“ - oder doch „finity“, Endlichkeit?

KRISE UND TROTZDEM LACHEN: Deutlich lockerer geht das kanadische Künstlerkollektiv BGL die Weltprobleme an. Es hat den winzigen Pavillon zu einem Kiosk mit Popcorn, Eiern und Klopapier umfunktioniert. Die Besucher halten den Kapitalismus am Laufen, indem sie Münzen durch eine doppelte Glaswand kullern lassen. Nebenan bei den Engländern sorgt Sarah Lucas mit knallgelben riesigen Phallussymbolen und Zigaretten in verschiedenen unteren Körperöffnungen eher für Langeweile denn Skandal. Eine Plexiglas-Tonne zum Entsorgen des Programmhefts steht bereit.

Draußen muss man derweil manchmal aufpassen, nichts zu übersehen. Vor dem französischen Pavillon steht wie vergessen eine Kiefer mit riesigem Erdballen. Erst als sie sanft zu tanzen beginnt, verrät sie sich als Teil von Céleste Boursier-Mougenots Installation im Inneren. Nicht zu übersehen dagegen die monumentalen Herrscherstatuen des britischen Empire, denen das indische Künstlerkollektiv Raqs die Köpfe abgeschlagen hat. Oder Carsten Höllers kunterbuntes Karussell, das einen Hauch Rummelplatz-Atmosphäre in die Giardini bringt.

„Man kann die Biennale nicht sehen, man muss sie scannen“, hatte Enwezor dem Kunstmagazin „Art“ gesagt. Wer danach mit wunden Füßen fast zusammenbricht, dem sei ein Besuch im österreichischen Pavillon empfohlen. Mit Kurator Yilmaz Dziewior vom Museum Ludwig in Köln hat der Ober-Minimalist Heimo Zobernig in der hintersten Ecke des Giardini-Parks einen Raum geschaffen, der auch als Zen-Tempel durchginge. Eine renommierte amerikanische Kunstkritikerin, so erzählen die Österreicher, hat sich während der Pressetage vorab enttäuscht erkundigt: „Haben Sie das Video schon abgeschaltet?“ So ist Venedig.

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