Ballettabend „Archipel“ Jirí Kylián: „Tanz ist und bleibt eigenständig“

Der Tscheche Jirí Kylián kommt mit dem Ballettabend „Archipel“ ans Essener Aalto Theater. Der 69-Jährige gilt als Surrealist unter den modernen Choreografen.

Ballettabend „Archipel“: Jirí Kylián: „Tanz ist und bleibt eigenständig“
Foto: dpa

Essen. Er bringt sein Publikum zum Lachen, berührt es, irritiert es — und das absolut effektsicher. Dafür liebt es ihn, und die internationale Tanzwelt überschüttet ihn seit Jahrzehnten mit Auszeichnungen: Der weltberühmte tschechische Choreograf Jirí Kylián, ein Meister magischer Körperkunst, steht im Zentrum des Ballettabends „Archipel“ am Aalto Theater in Essen.

Herr Kylián, wo treffe ich Sie gerade an?

Jirí Kylián: Ich bin in Monte Carlo. Hier studiere ich ein Programm ein, das aus meinen Werken zusammengestellt ist: „Bella Figura“, „Gods and Dogs“, „Chapeau“.

Nächste Woche kommen Sie nach NRW. Zwar hat nahezu jede größere Ballettkompanie einen Kylián im Repertoire, in Essen studieren Sie gleich einen Vierteiler ein. Wie kam es dazu?

Kylián: Es ist spannender, einen ganzen Abend mit Werken von einem Choreografen zu präsentieren. So erhält das Publikum die Gelegenheit, eine vielschichtige Einsicht in dessen Denkweise zu bekommen und ihn besser kennenzulernen. Es war die Initiative der Essener Ballettdirektion.

Nach welchen Kriterien haben Sie den Abend zusammengestellt?

Kylián: Es sind insgesamt vier Stücke, die ich in verschiedenen Zeitabschnitten gemacht habe: 1986, 1991, 1997, 2002. Sie zeugen also von verschiedenen Aspekten meiner choreografischen Entwicklung. Gleichzeitig gibt diese Wahl den Tänzern die Möglichkeit, den Spannbogen ihrer Talente unter Beweis zu stellen.

Ihre Ballette können spirituell oder humorvoll sein, vor allem tragen sie spannungsvolle Rätsel in sich und spielen gern mit Sinnestäuschungen. Deshalb gelten Sie als Surrealist unter den modernen Choreografen. Sehen Sie sich auch so?

Kylián: Ja, zweifellos. Ich stamme aus Prag, also aus einer Stadt, in der beispielsweise Franz Kafka und Jaroslav Haek, Autor des „Braven Soldaten Schweijk“, im gleichen Jahr geboren wurden (1883). Schon diese Tatsache trägt etwas völlig Absurdes in sich.

Sie haben das Nederlands Danstheater (NDT) als Ballettdirektor und Choreograf über Jahrzehnte geprägt. In welcher Weise sind Sie ihm heute noch verbunden?

Kylián: Ich habe mich sehr bewusst dafür entschieden, das NDT für drei Jahre von meinem Repertoire zu entlasten. Dadurch habe ich ihm die Freiheit gegeben, einen neuen Weg einzuschlagen, ohne den Schatten des früheren Direktors. Und das ist auch größtenteils gelungen. Wenn das NDT nach Ablauf dieser Frist mein Repertoire wieder aufführen möchte, bin ich dafür bereit.

Als NDT-Chef brachten Sie damals noch namenlose Talente wie William Forsythe, Mats Ek oder Ohad Naharin heraus. Sie haben mit NDT 1 die erste Juniorkompanie und mit NDT 3 die erste Seniorenkompanie gegründet. Als Choreograf schufen Sie in mehr als 40 Jahren ein einzigartiges Repertoire. Was macht das mit Ihnen, wenn Sie auf Ihr bisheriges Lebenswerk zurückblicken?

Kylián: Ja, es war eine besondere Zeit. Eine Zeit, die unerhört reich war an Individualisten. Damals gab es noch keine „Globalisierung“, sondern Schöpfer, die etwas ureigenes zu sagen hatte, die völlig unverwechselbar waren. Und es war eben diese Vielschichtigkeit, die mich interessierte, und der ich versucht habe, eine Plattform zu geben. Ich muss mit einer Priese Zufriedenheit feststellen, dass es mir gelungen ist. Zu diesem Erfolg hat natürlich entschieden der Bau unseres eigenen Theaters beigetragen. Dieses Theater, der erste Bau von Rem Koolhaas, wurde im vorigen Jahr abgerissen, um Platz zu machen für ein neues Kulturhaus.

Wo steht der Tanz im 21. Jahrhundert? Gleichberechtigt neben Oper und Schauspiel?

Kylian: Tanz ist nicht nur die älteste, sondern auch die persönlichste und dynamischste Kunstform. Sie muss seit langem nicht mehr betteln, um von der heiligen Kunstfamilie geduldet zu werden. Tanz ist und bleibt eigenständig. Dafür hat schon das 20. Jahrhundert gesorgt. Und ich hoffe, dass es auch so bleibt . . . !

Wer waren Ihre choreografischen Helden?

Kyliàn: John Cranko, natürlich, er war es auch, der mich zum Choreografieren ermutigte. Aber auch Kenneth MacMillan und Maurice Béjart.

Im kommenden Jahr werden Sie 70 Jahre alt. Können Sie sich vorstellen, sich an dieser Schwelle, wie ihr Kollege Mats Ek, aus der Tanzwelt zurückzuziehen und unverplante Zeit zu genießen?

Kylián: Tja, es klingt vielleicht banal, aber ich kann nicht aufhören, neue Herausforderungen zu suchen: Zum Beispiel im Film und in der Fotografie — am 7. Mai habe ich im Korzo Theater in Den Haag meine erste Photoinstallation. Nur mit den Terminen ist es eine verflixte Sache. Ich habe einmal etwas gesagt, was leider durch eine deutsche Übersetzung seinen Witz verliert: ‘I don’t need a dead line, I need a life line’ („Ich brauche keine deadline, ich brauche eine Rettungsleine“).

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