Gegen den Strich: „Die Gezeichneten“ in Berlin

An der Komischen Oper gibt’s Applaus für die Darsteller, doch Regisseur Calixto Bieito wird ziemlich ausgebuht.

Gegen den Strich: „Die Gezeichneten“ in Berlin
Foto: dpa

Berlin. Große Gefühle, überzeichnete Figuren und gerne viel Sex und Blut: Von seinem Ruf als Skandalregisseur hat sich Calixto Bieito befreit — gegen den Strich bürstet der Spanier die Stücke aber immer wieder mit ungebremster Lust. So auch am Sonntagabend in Berlin mit Franz Schrekers „Die Gezeichneten“, einer spätromantischen, ausschweifenden Künstleroper mit viel Erotik und Dekadenz.

Bei seinem Debüt an der Komischen Oper hatte der vielbeschäftigte Bieito, der zuletzt unter anderem „Die Trojaner“ in Nürnberg und „Tosca“ in Oslo inszenierte, einen handfesten Skandal ausgelöst. Er ließ „Die Entführung aus dem Serail“ 2005 in einem Bordell spielen, es ging heftig zu damals auf der Bühne. In seiner achten Arbeit für das Haus hat es am Sonntag dafür allerdings nicht gereicht.

Schrekers 1918 uraufgeführte Oper gilt als ein herausragendes Stück aus dem Musiktheater des 20. Jahrhunderts. Der Österreicher war seinerzeit einer der meistgespielten Komponisten, die Nazis degradierten sein Schaffen zur „entarteten Kunst“, erst seit einigen Jahren taucht er wieder mehr und mehr im Programm auf.

„Die Gezeichneten“ greift ein Thema auf, das Künstler und Intellektuelle zur Jahrhundertwende schwer beschäftigte: Das Verhältnis zwischen Liebe, Kunst und Utopie. Das Libretto, das Schreker (1878-1934) nach einem Theaterstück von Frank Wedekind verfasste, hat es in sich: Die Hauptfigur Alviano Salvago (Peter Hoare), ein verkrüppelter Künstler, ist auf der Suche nach wahrhaftiger Liebe. Auf einer Insel vor Genua hat er sich ein Paradies der Ausschweifungen geschaffen, sein Elysium, in dem die Adligen Genuas ihren Gelüsten nachgehen.

In der Stadt macht sich das Gerücht breit, Alviano entführe junge Mädchen auf die Insel und missbrauche sie dort. Der bucklige Künstler beschließt, die Lasterhöhle zu schließen und die Insel den Bürgern Genuas zu überlassen — gegen den Widerstand der Männer. Erst die Liebe zur Malerin Carlotta (Ausrine Stundyte) soll Alviano endgültig von seinem Laster befreien.

Bieito verschärft nun diesen Plot, setzt konsequent seine Sicht der Dinge um. Die verschworene Gesellschaft der Adligen wird zum Pädophilie-Ring mit Alvianos Gegenspieler Tamare (Michael Nagy) als dessen Anführer. Im ersten Teil, der an der Bühnenrampe vor weißem Hintergrund spielt und an die Gegenüberstellung von Verdächtigen in US-Filmen erinnert, flimmern Videos (Sarah Derendinger) misshandelter Kinder. Auf der Bühne halten Männer in Anzügen Mädchen und Jungen in ihrer Gewalt.

Alviano trägt meistens eine Puppe mit sich, die einem der missbrauchten Jungen gleicht. Auch nach der Pause bleibt Bieito beim Pädophilie-Thema. Kinder kreisen in einer Modelleisenbahn durch Alvianos Elysium, später kommen riesige Kuscheltiere dazu (Bühnenbild: Rebecca Ringst, Kostüme: Ingo Krügler).

Nicht leicht hat es dabei die Musik. Doch Stefan Soltesz, der jüngst das Werk in Köln dirigierte, trägt Schrekers Klang über die Bilderflut hinweg. Anders als mit Bieitos überfrachteter und kopflastiger Deutung, erfassen Soltesz und das Orchester wesentlich präziser die seelischen Abgründe auf dieser Insel der Dekadenz.

Auch die Sänger tragen dazu bei. Vom Publikum gefeiert wurden vor allem Peter Hoare als Alviano, Michael Nagy als sein Gegenspieler Tamare sowie Ausrine Stundyte als die Malerin Carlotta. Bieito musste sich dagegen einige Buhrufe gefallen lassen, denen er mit trotzig erhobener Hand begegnete.

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